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Mitternachtsfalken: Roman

Titel: Mitternachtsfalken: Roman
Autoren: Ken Follett
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lauter geworden, und Harald stieg der Geruch von Maschinenöl in die Nase. Auf seiner Zunge lag der eigenartige Geschmack statischer Elektrizität.
    Wer hatte da gehustet? Wahrscheinlich ein patrouillierender Wachsoldat. Wind und Regen, sagte sich Harald, müssen seine Schritte verschluckt haben – genau die gleichen Geräusche also, die es mir vorhin ermöglicht haben, unentdeckt über den Zaun zu klettern. Ob der Soldat mich gesehen hat?
    Schwer atmend presste sich Harald an die gekrümmte Innenwand und wartete auf den grellen Strahl einer Taschenlampe, der ihn verraten würde. Was wird mit mir passieren, wenn sie mich erwischen, fragte er sich. Hier draußen auf dem Land waren die Deutschen eigentlich ganz umgänglich. Anstatt wie Eroberer durch die Gegend zu stolzieren, erweckten die meisten von ihnen den Eindruck, als sei ihnen die Rolle der Herrschenden eher peinlich. Sie werden mich vermutlich der dänischen Polizei übergeben, dachte Harald, und was wird die dann tun? Wenn Peter Flemming hier auf der Insel das Sagen hätte, würde er mich in die Mangel nehmen, das steht fest. Aber sein Revier ist glücklicherweise in Kopenhagen.
    Was Harald noch mehr fürchtete als eine Bestrafung von Amts wegen, war der Zorn seines Vaters. Er konnte sich schon das sarkastische Verhör vorstellen: »Du bist also über den Zaun geklettert? Einfach so rein ins militärische Sperrgebiet? Und das bei Nacht? Als Abkürzung, soso! Weil es geregnet hat, ach ja?«
    Aber der Lichtstrahl blieb aus. Harald wartete und starrte das unförmige Gerät unmittelbar vor sich an. Am unteren Ende des Gitters schienen schwere Kabel angebracht zu sein; sie verschwanden in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Mulde. Es muss sich um eine Art Funkstation handeln, dachte er.
    Langsam strichen die Minuten vorbei. Als Harald sicher war, dass der Posten sich entfernt hatte, kletterte er wieder auf die Mauer und versuchte, sich im Regen zu orientieren. Auf beiden Seiten der Anlage konnte er schemenhaft zwei dunkle Gebilde erkennen, die sich jedoch nicht bewegten; vermutlich ein Teil der Apparatur. Ein Posten war nirgendwo zu erblicken. Harald ließ sich an der Außenseite der Mauer hinunter und setzte seinen Weg durch die Dünen fort.
    Als der Mond hinter einer dicken Wolke verschwand, stieß Harald unvermittelt an eine Holzwand. Im ersten Moment war er so erschrocken, dass er leise fluchte, doch dann ging ihm auf, dass er gegen ein altes Bootshaus aus der Zeit der Seefahrtschule gelaufen war. Es war inzwischen verfallen und von den Deutschen, die offenbar keine Verwendung dafür hatten, nicht repariert worden. Sekundenlang blieb er stehen und lauschte angestrengt, konnte aber nur die Brandung und seinen eigenen Herzschlag hören. Er ging weiter.
    Ohne neuerlichen Zwischenfall erreichte er den Zaun auf der anderen Seite des Stützpunktgeländes und kletterte hinüber. Jetzt war es nicht mehr weit bis zu seinem Elternhaus.
    Zuerst aber kam er zur Kirche. Licht schimmerte hinter der langen Reihe kleiner, quadratischer Fenster auf der dem Strand zugewandten Seite. Dass sich an einem Samstagabend um diese Stunde noch jemand in der Kirche aufhalten sollte, überraschte ihn. Er warf einen Blick hinein.
    Die Kirche war ein lang gestrecktes Gebäude mit einem niedrigen Dach. Zu besonderen Anlässen fand die gesamte Inselbevölkerung, an die vierhundert Menschen, hier Platz, wenn auch nur mit Mühe. Den Sitzreihen gegenüber stand ein hölzernes Chorpult, einen Altar gab es nicht. Die Wände waren, von wenigen gerahmten Texten abgesehen, schmucklos.
    In Religionsfragen waren die Dänen keine Dogmatiker und gehörten zum überwiegenden Teil der evangelisch-lutherischen Kirche an. Das Fischervolk von Sande allerdings war vor hundert Jahren zu einem rigoroseren Bekenntnis bekehrt worden. Diesen Glauben hatte Haralds Vater in den vergangenen dreißig Jahren am Leben erhalten, indem er mit dem kompromisslosen Puritanismus seiner eigenen Lebensführung ein Beispiel setzte. Die Entschlossenheit seiner Gemeinde festigte er mit allwöchentlichen Predigten, in denen er Sündern mit Pech und Schwefel drohte, und Abtrünnige konfrontierte er mit der unwiderstehlichen Heiligkeit, die aus dem Blick seiner blauen Augen strahlte. Seine flammende Überzeugungskraft verfehlte indessen ihre Wirkung bei seinem eigenen Sohn: Harald war kein gläubiges Schaf in Vaters Herde. Zwar ging er, wenn er zu Hause war, regelmäßig zum Gottesdienst, weil er den Pastor nicht verletzen
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