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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika
Autoren: Annie Proulx
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Jeder der beiden besaß sein eigenes Schlafzimmer an den entgegengesetzen Enden des Flurs im ersten Stock. Aber es brachte auch keiner der beiden eine Frau mit nach Hause. Es war ein ärmlicher Junggesellenhaushalt (obgleich aufgeräumt und sauber), denn sie verdienten wenig Geld. Zu guter Letzt kam Bob zu dem Schluß, daß beide (und unter Umständen auch er) ihre Sexualität auf neutral geschaltet hatten, mit Ausnahme einer besonderen und unerklärlichen Erinnerung an Bromo Redpoll, als er in Santa Fe zum drittenmal hintereinander auf dem Schuhputzsessel saß, mit einem Gesichtsausdruck, den der neunjährige Bob nur als »erwachsen« bezeichnen konnte, während ein mexikanischer Junge mit seinem Lappen über die glänzende Kappe fuhr. Als Bob älter war, erfaßte er die sexuelle Konnotation dieses Gesichtsausdrucks und hatte einen Begriff dafür – Lüsternheit –, denn er hatte ihn auf dem eigenen Gesicht gesehen, nicht vor Verlangen nach einem mexikanischen Schuhputzerjungen, sondern nach den Schlampen der Front Range High, die für ihn so unerreichbar waren wie Kalenderbilderschönheiten. Er träumte von sich und einem sinnlichen Mädchen mit Lockenschopf und Grübchen, doch es war anders gekommen. Bob war nicht groß, aber durch einen genetischen Glücksfall gut gebaut, muskulös, mit einem festen kleinen Hintern und breiten Schultern. Als Bob heranwuchs, war Tamder unerwünschte Gedanke gekommen, daß der Junge, um es in Waynes Worten zu sagen, »zum Fressen lecker« wurde.
    An der Front Range High gab es keine Mädchen mit Grübchen und Lockenschopf, und in seinem ersten High-SchoolJahr wurde er von einem großen ungepflegten Mädchen mit ungesundem Teint aufgegabelt, Marisa Berdstraw, die dunkelroten Lippenstift trug, der ihre Zähne gelb wie die eines Bibers schimmern ließ. Sie hatte ihn sich im Handumdrehen sexuell unterworfen, mit Gelübden und allem Drumherum vorgeblicher Liebe, fern jeder Wirklichkeit. Konkret bedeutete es, daß man »miteinander ging«, gemeinsam lernte, freitags oder samstags ins Kino ging, sich sonntags morgens ein sexuelles Gerangel lieferte, wenn ihre Eltern, die beide narbige, grobporige Gesichter hatten, in der Kirche waren. Er tat, was sie sagte, und sie hatte ein ausgetüfteltes Muster von Ereignissen und Verhaltensweisen im Kopf. Manchmal rief sie ihn abends an.
    »Was machst du gerade?«
    »Lerne für die Prüfung in Gemeinschaftskunde.«
    »Ich habe auch eine Prüfung. In Querbeet. Aber ich lerne nicht dafür. Ist eher wie ein Quiz.«
    Querbeet war ein neues Fach, ein Experiment, das tangential von Thema zu Thema schnellte, je nachdem, was behandelt wurde. Es hatte mit geologischen Fragen begonnen, war zu Esperanto abgewichen, zum Hof Ludwigs XVI. geglitten, zur Whiskey-Rebellion, zum Oklahoma-Landrush und danach zu Fraktalen, dem Bau von Öltankern und, in letzter Zeit, dem Rechnen mit dem Abakus.
    »Nur noch drei Tage bis Sonntag«, sagte sie kokett. »Jo.«
    »Freust du dich?«
    »Warum? Weil es noch drei Tage sind?«
    »Weil es nur noch drei Tage sind.«
    »Klar.«
    Aber besonders froh war er nicht. Die Begegnungen in ihren sandigen Laken, von ihren starken Körpergerüchen getränkt, ließen ihn unruhig und enttäuscht zurück. Er hätte sich einiges anders gewünscht. Immerhin hatte Marisa ein herzhaftes Lachen und einen gewissen Sinn für Humor, der allerdings auf Schmerz und Unglücksfälle angewiesen war. Er hatte sie nur einmal mit nach Hause gebracht. Sie ließ sich anmerken, daß sie die Wohnung für ein enges Loch und Onkel Tam für eine Art Idioten hielt, nett, aber unterbelichtet.
    »Er ist nicht ganz bei Trost, verstehst du? Nicht ganz da, oder?«
    Er verspürte weder Kummer noch Erleichterung, als sie ihm erklärte, daß Schluß sei.
    »Ich gehe jetzt nicht mehr mit dir«, sagte sie. »Ich habe einen anderen.«
    Er stellte ziemlich bald fest, daß der andere Kevin Alk war, ein kurzsichtiger Mathefreak mit Akne im Gesicht und so fettigem Haar, daß man die Spur des Kamms darin sehen konnte.
    »Viel Glück«, sagte er höflich, doch insgeheim dachte er, daß Marisa und Kevin Alk einander verdient hatten. Was ihn betraf, bewies Marisas Interesse und darauffolgendes Desinteresse, wie wenig er ihr bedeutete. Nur Onkel Tam bedeutete er etwas, doch was, wußte Bob nicht zu sagen. Nicht mehr als Blutsbande, vermutete er, und vielleicht ein Gefühl der Verpflichtung der verschollenen Schwester gegenüber.
    Die Wohnung hatte einen eigenartigen Geruch,
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