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Mitten in Amerika

Mitten in Amerika

Titel: Mitten in Amerika
Autoren: Annie Proulx
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Ausdünstungen des Ladens im Erdgeschoß – staubgesättigtes Holz, modrige Polster, die bitteren Absonderungen von Zelluloid und Bakelit, das maritime Aroma alten Fischleims. Das Treppenhaus zum Laden hinunter war eng und schief, die Wände mit einem Muster aus den vierziger Jahren tapeziert, gelbes Gitterwerk, an dem rote Teekannen hingen. Oben gab es in der Mitte des Flurs Stiche und Bilder, die mit anderem Ramsch angeliefert worden waren und Onkel Tams Gefallen gefundenhatten. Eines zeigte fünfzig große Flüsse der Erde, die als herabhängende Schnüre dargestellt waren, der Länge nach aufgereiht, und die Ecke gegenüber zierte eine Ansammlung von Berggipfeln, vom niedrigsten bis zum höchsten, eine sagenhafte und großartige Bergkette, wie es sie in Wirklichkeit nirgends gab. Dennoch hatte Bob jahrelang geglaubt, in einem fernen Land folge auf Hunderte von Bergen in Form umgedrehter Eistüten eine unermeßlich große Ebene, durchschnitten von fünfzig parallel verlaufenden Flüssen.
    »Das ist keine realistische Darstellung«, sagte Bromo Redpoll. »Du Esel. Es ist nur ein Vergleich.«
    Der Laden bot eine große Vielfalt von amerikanischem Ramsch feil, doch die Spezialität war Plastik; ihre gemeinsame Leidenschaft für Objekte aus Harzen und Polymeren verband die zwei Männer wie Zwillingskirschen am Stengel. Onkel Tam konnte stundenlang über die Plastikherstellung reden; er hatte einen Chemiekurs absolviert, um den komplizierten Prozeß besser zu verstehen.
    Es gab einen Raum im Laden – das beste Zimmer –, in dem für normale Kunden nichts zu kaufen war. Ein Schild an der Tür besagte:
     
    K ÜNSTLERISCHES P LASTIK
  Termine nach Vereinbarung
     
    »Eines Tages«, sagte Onkel Tam, »vielleicht nicht gerade in unserer Lebenszeit, aber vielleicht in deiner, Bob, werden die Leute Plastiksachen aus dem zwanzigsten Jahrhundert als Kunst sammeln, so wie sie jetzt hinter hölzernen Getreidesensen und Windradgewichten her sind. Das hier wird ein Vermögen wert sein«, sagte er mit einer großspurigen Geste zu den Regalen und Kisten voller Acrylarmbänder, Acrylvasen, Bakelitradios und Polyäthylenwasserkrüge. Auf Piedestalen erhoben sichwie Skulpturen Waschboys aus Plastik, schwarz und weiß. Die Streifzüge der beiden reichten von Flohmarktbesuchen am Stadtrand bis zum regelmäßigen und systematischen Absuchen der Antique-Row-Läden am Broadway, wo sie nach Kinderrasseln, alten Billardkugeln und sogar nach Zelluloidlätzen altmodischer Nonnengewänder stöberten.
    Das Besondere bringt oft die Subspezies des noch selteneren Besonderen mit sich, und so war es auch bei Bromo Redpoll und Tam Bapp. Bromo hatte ein Dutzend Sonnenschirmgriffe aus Kunstharz mit Metallbanddekoration gesammelt. Tam hatte es auf ein britisches Harnstoffharz aus den zwanziger Jahren abgesehen, im Volksmund Käferplaste geheißen, ein Vorläufer des Melamins und im Unterschied zu diesem nicht kochfest. Silikone, Polyurethane, Epoxidharze waren ihr Wunschtraum, doch sie kauften nur, was nicht mehr als ein paar Dollar kostete. Eine Nebenspezialisierung war die auf Bakelitschmuck aus den Zwanzigern. Als Onkel Tam am Boden einer alten Kiste mit Zeitschriften einen Bakelitkatalog vom Anfang des Jahrhunderts entdeckte, waren beide der Ansicht, einen bedeutenden Fund gemacht zu haben.
    Im Raum des Künstlerischen Plastiks gab es Dutzende von Puppen und Spielsachen, doch schöner als all das fand Bob den Kleopatra-Schminkkasten, ein eindrucksvolles, rot und schwarz gemustertes Art-déco-Gehäuse, vollgepackt mit Nagelfeilen mit Plastikgriff und mit Sandpapier und ein paar Fläschchen Nagellack, deren Inhalt zu schwarzem Pulver eingetrocknet war. Bob tat so, als hätte Kleopatra das Schminkset besessen, und die Phiolen mit schwarzem Staub enthielten echtes Gift.
    Der Höhepunkt der Woche war der Sonntagabend, wenn die Antiques Roadshow ausgestrahlt wurde. Onkel Tam schloß den Laden um halb fünf, selbst wenn Kunden mit flehendem Blick vor der Tür standen, an die er das Schild GESCHLOSSEN hängte. Die Partner waren glühende Anhänger der Sendungund hatten ihre Rituale entwickelt. Zeitschriften und Rechnungen, die sich im Lauf der Woche angesammelt hatten, wurden vom Couchtisch geräumt. Notizbücher und Stifte wurden bereitgelegt. Je nach Jahreszeit und Kassenstand wurden die Getränke in dem silbernen Cocktailschwenker in Form eines Pinguins aus der Hochzeit des Jazz zubereitet – Drinks mit Kokosmilch waren beliebt, aber Kokosmilch war
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