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Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation

Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation

Titel: Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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Bewunderer Hitlers im inneren Ensemble des Redners? Es mag ja historisch richtig sein, dass Hitler in diesen Jahren eine depressiv darniederliegende Nation aufgerichtet hat – aber ist das hier und heute der Ort, ihn dafür noch einmal hochleben zu lassen? So mögen Hörer und Hörerinnen empfunden haben.
    Für Jenningers roten Faden hat der Hinweis eine Bedeutung: Wenn man sogar heute diese «Erfolgskette» staunend betrachten kann – wie fasziniert muss dann der deutsche Zeitgenosse gewesen sein? Sodann versucht er sich in dessen politische Seelenlage einzufühlen, in das Gefühl der Befreiung aus einem Massenelend: «Die meisten Deutschen […] dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen.»
    «Größter Staatsmann unserer Geschichte!? Er lässt ihn wirklich hochleben!», mögen manche Hörer erschrocken festgestellt haben: «Fehlt nur noch, dass er hinzufügt: ‹Schade nur, dass ein paar unschuldige Juden dabei umgekommen sind›!»
    Der Redner bedient sich eines Kunstgriffs, der in anderem Kontext als historisch angemessen und didaktisch wertvoll anzusehen ist: Er schlüpft (vorübergehend) in die Haut des Zeitgenossen von damals, betrachtet die Welt mit dessen Augen und spricht für ihn aus, was er damals gedacht und gefühlt haben mag:
Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach die Propaganda – abgesehen von wilden, nicht ernst zu nehmenden Übertreibungen – nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?
    Ein solches «identifikatorisches Doppeln» gelingt den meisten Menschen nur dann, wenn ihnen der Inhalt selbst aus dem Herzen gesprochen ist – es sei denn, sie wären ausgebildete Psychotherapeuten oder Kommunikationspsychologen. So ist für den Teilnehmer der Gedenkfeier, der dort in Kontakt mit seinem tiefen Schmerz gekommen ist, die rhetorische Dramaturgie nicht mehr deutlich genug. Die Sätze sind im Raum, gesprochen von Philipp Jenninger und keinem anderen. Zumal dieser es versäumt, aus der Rolle des Dopplers wieder erkennbar herauszuschlüpfen und auf Distanz zu gehen – zum Beispiel mit einem Hinweis wie: «So hätten sie, die Deutschen damals, vielleicht gedacht, gefühlt und gesprochen in ihrer Verblendung, in ihrer Tendenz zur Verharmlosung und in ihrer – und unserer – leider allzu menschlichen Neigung, wegzuschauen, wenn es besonders grausig und gefährlich wird.»
    Wenn die Nerven bloßliegen, kann jeder missverständliche Zungenschlag zum Eklat führen. In einem Seminar zur politischen Bildung wäre dieser Vortrag gut gewesen. Aber auch in dem hier gegebenen Rahmen stand der anschließende Rücktritt vom Amt des Bundestagspräsidenten mit dem Ausmaß der «Verfehlung» in keinem vernünftigen Verhältnis. Ausschlaggebend waren Erwägungen und Kräfteverhältnisse im politischen Spiel.

    Situationsgerechte Kommunikation: objektive oder subjektive Kriterien? So weit einige Beispiele und Überlegungen zum Feld oben rechts («daneben»). Der mitdenkende Leser wird sich vielleicht schon selbst die Frage gestellt haben: Situationsgerecht oder daneben, ist das denn objektiv bestimmbar? Oder ist jeder darin frei, was er als situationsgerecht «empfindet» und was nicht? Weder noch. Zuweilen liegen die «Bestimmungsstücke einer Situation», ihr vierfacher Gehalt (vgl. Abb. 88), so deutlich vor aller Augen, dass sie nahezu objektiv erscheinen und jede Verfehlung treffsicher zu bestimmen ist. Zu einem beträchtlichen Teil aber trägt jeder seine Situationsdefinition im Kopf – und dann kann es und wird es geschehen, dass der eine etwas als stimmig und situationsgemäß ansieht, was für einen anderen «völlig daneben» ist. Dann gibt es stummes Befremden oder lauten Streit und im Idealfall eine metakommunikatorische Verständigung darüber, worin wir, nach Beachtung der Unterschiede, gemeinsam den Kerngehalt der Situation erblicken wollen. – Bei einer Familienfeier bringt die Schwägerin ihre Eheprobleme zur Sprache, ein Wort gibt das andere, sie wütet und weint. Stimmig oder daneben? Einige empfinden dieses Thema auf einer Familienfeier als unpassend, andere wiederum sehen ein solches Treffen als willkommene Gelegenheit,
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