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Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation

Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation

Titel: Miteinander reden 03 - Das "Innere Team" und situationsgerechte Kommunikation
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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voneinander etwas zu erfahren und Anteil zu nehmen, sie hassen geradezu den üblichen pseudoharmonischen Smalltalk solcher Veranstaltungen. Eine andere Frage ist, ob diese Veröffentlichung im Familienkreis ein Verstoß gegen die Intimität der ehelichen Partnerschaft darstellt, dann könnte die Selbstoffenbarung, die hier zugleich eine «Fremdoffenbarung» darstellt, unter diesem Aspekt als «daneben» beurteilt werden.
    Jede Familie, jedes Team entwickelt mit der Zeit solche normativen Vorstellungen, was «hierhin gehört und was nicht» – und auch, was «sich gehört und was nicht»! So mag es im Team A als sehr ungehörig und «daneben» empfunden werden, wenn jemand vom Chef vor aller Augen kritisiert wird. Im Team B mag das ganz üblich sein, und auch der Chef muss in den gemeinsamen Treffen immer mal wieder etwas «einstecken». Kommt ein Neuer in ein Team, tritt er anfangs in manches Fettnäpfchen: Es gibt eben unausgesprochene Regeln, was hier geht und was nicht.
    Solche Konventionen setzen sicherlich wichtige Maßstäbe für situationsgerechtes Verhalten. Sie variieren von Gruppe zu Gruppe, von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur. Interkulturelle Zusammenarbeit und multikulturelles Zusammenleben enthalten immer jene Irritation und jenes «Befremden», das aufkommt, wenn die unausgesprochenen Vorstellungen über situationsgerechtes Verhalten divergieren. Da hilft nur, sich auszukennen in der normativen Welt des Gegenübers und das Bewusstsein von der Relativität der eigenen Wertmaßstäbe – ohne dass diese dadurch beliebig würden.
    Aber das «Situationsgerechte» ist keineswegs nur durch Konventionen bestimmt. Es gibt auch konventionsneutrale «Forderungen der Lage», die in einer Situation mehr oder minder offen zutage treten. Wenn auf einer Gartenparty plötzlich entdeckt wird, dass ein Kleinkind verschwunden ist und auf Rufe nicht antwortet, dann ist das nicht der Zeitpunkt für die Erörterung, wer hätte aufpassen müssen. Jetzt sind schnelle Absprachen nötig: Wer läuft zum Teich, wer auf die Straße mit welcher Richtung usw. Nicht immer droht ein Kind in den Brunnen zu fallen, aber unsere Zusammentreffen sind stets auch dem Bemühen gewidmet, die Welt in Ordnung zu bringen und unsere gemeinsame Wohlfahrt in ihr zu sichern. In diesem Sinn dürfen wir davon sprechen, dass jede Situation ihre besonderen Gebote enthält, die wir mehr oder minder klar erspüren und denen wir mehr oder minder gut entsprechen können (vgl. Metzger 1975, S. 34f.).
    Freilich sind solche «Gebote» nicht der Situation in dem Sinn wesenseigen, dass sie unabhängig von den an ihr beteiligten Menschen bestimmbar wären. Jedes handelnde Subjekt verbindet, wert- und zielgeleitet, mit einer Situation seine Perspektive    [11] .
    Und die situativen Gebote ergeben sich im Zusammenhang mit diesen Perspektiven. Wenn wir dies in Betracht ziehen, müssen wir abermals mit Uneinigkeit rechnen über das, was als «situationsgerecht» oder «daneben» empfunden und beurteilt wird.
    Als eindrückliches Musterbeispiel kommt mir jener berühmt gewordene Vorfall wieder in den Sinn, der sich 1967 im Auditorium maximum meiner Universität zugetragen hat. Es war die Einführungsfeier für uns Erstsemester. Das Zeremoniell begann damit, dass der Rektor und die Honoratioren in ihren schwarzen Talaren die Treppe herunter zum Podium schritten, unter den Klängen klassischer Musik. Doch diesmal, völlig unerwartet, setzten sich zwei Studenten, ehemalige Vorsitzende des Studentenausschusses, an die Spitze der feierlichen Prozession und entrollten ihr Spruchband «Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren!».
    Situationsgerecht oder daneben? Für die Würdenträger der Universität war diese «Entgleisung» mehr als daneben, ein ungeheuerliches Sakrileg. «Ihr gehört alle ins KZ», entfuhr es einem Professor – es war ihm «so herausgerutscht» (vgl. Kahl 1997). Für die Studenten war ihre Provokation durchaus «stimmig», nämlich in Übereinstimmung mit ihrer Überzeugung, dass die Ordinarienuniversität von Übel sei und ihre Selbstzelebrierung mit feierlichem Mummenschanz auf frischer Tat denunziert gehöre – und dazu war es erforderlich, solche Situationen «umzufunktionieren» (wie es damals hieß).
    Hier haben wir also den Sonderfall, dass jemand sich bewusst und absichtsvoll «daneben» benimmt (aus der Perspektive des Gegenübers), weil er (aus der eigenen Perspektive) der Situation andere Gebote abgewinnt.
    Wir kommen also
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