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Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Titel: Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Autoren: Sharon Draper
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kein Buch lesen. Ich hatte eine Million Gedanken in meinem Kopf, aber ich konnte sie niemandem mitteilen. Und außerdem rechnete sowieso keiner damit, dass die Kinder in H-5 tatsächlich etwas lernten. Es trieb mich in den Wahnsinn!
    Ich kann nicht viel älter als sechs gewesen sein, als Mrs V. auf das stieß, was ich brauchte. Eines Nachmittags nach der Schule und einem Snack aus Eiscreme mit Karamellsoße zappte sie durch die Fernsehprogramme und blieb an einer Dokumentation über einen Kerl namens Stephen Hawking hängen.
    Nun ist es so, dass ich an fast allem interessiert bin, wo ein Rollstuhl drin vorkommt. Ach nee! Mir gefällt sogar der Jerry-Lewis-Telethon! Es stellte sich heraus, dass Stephen Hawking etwas hat, das ALS genannt wird, und er kann weder laufen noch sprechen und ist wahrscheinlich der klügste Mensch der Welt – und
alle
wissen es! Das ist so cool.
    Ich wette, dass er manchmal echt frustriert ist.
    Nachdem die Sendung zu Ende war, wurde ich ganz still.
    »Er ist irgendwie wie du, nicht wahr?«, fragte Mrs V.
    Auf meiner Tafel zeigte ich erst auf Ja , dann auf Nein .
    »Ich kann dir nicht folgen.« Sie kratzte sich am Kopf.
    Ich zeigte auf muss auf meiner Tafel, dann auf lesen . Muss / lesen . Muss / lesen .
    »Ich weiß, du kannst viele Wörter lesen, Melody«, sagte Mrs V.
    Ich zeigte wieder. Mehr . Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Mehr. Mehr. Mehr.
    »Melody, wenn du wählen müsstest, was würdest du lieber können – laufen oder sprechen?«
    Sprechen . Ich zeigte auf meine Tafel. Ich schlug wieder und wieder auf das Wort. Sprechen. Sprechen. Sprechen. Ich habe
so
viel zu sagen.
    Also erklärte Mrs V. es zu ihrer neuen Mission, mir Sprache zu verleihen. Sie riss alle Wörter von meiner Kommunikationstafel ab und fing von vorne an. Sie machte die neuen Wörter kleiner, damit mehr draufpassten. Jede noch so winzige Ecke auf meiner Kommunikationstafel wurde mit Namen und Bildern von Menschen gefüllt, die eine Rolle in meinem Leben spielten. Fragen, die ich vielleicht stellen musste, und eine große Anzahl von Nomen und Verben und Adjektiven fanden darauf Platz, sodass ich tatsächlich etwas zusammenstellen konnte, das wie ein Satz aussah! Durch einfaches Zeigen mit meinem Daumen konnte ich fragen:
Wo ist meine Tasche?,
oder sagen:
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mama
.
    Übrigens habe ich magische Daumen. Sie funktionieren perfekt. Der Rest meines Körpers ist wie ein Mantel, bei dem die Knöpfe in den falschen Knopflöchern stecken. Aber meine Daumen wurden ohne Makel geliefert, störungsfrei. Nur meine Daumen. Das verstehe einer.
    Mrs V. fügte jedes Mal neue Wörter hinzu. Ich lernte sie schnell, benutzte sie in Sätzen und lechzte nach mehr. Ich wollte LESEN!
    Also fertigte sie Karteikarten mit Vokabeln für mich an.
    Rosa für Nomen.
    Blau für Verben.
    Grün für Adjektive.
    Ich lernte, haufenweise Wörter zu lesen. Kurze Wörter wie
Fisch
und
Tisch
und
wisch
. Ich mag Reimwörter – man kann sie sich so leicht merken. Mit Reimwörtern ist es wie beim Schlussverkauf im Einkaufszentrum: »Bezahl eins und krieg alle anderen umsonst.«
    Ich lernte lange Wörter wie
Tausendfüßer
und
Schmetterling
und Wörter, die sonderbaren Regeln folgten wie
Vase
oder
Clown
. Ich lernte alle Wochentage, Monate, alle Planeten, Ozeane und Kontinente. Jeden Tage lernte ich neue Wörter. Ich sog sie auf und verschlang sie, als handelte es sich um Mrs V.s Kirschkuchen.
    Und dann breitete sie die Karteikarten auf dem Boden aus, platzierte mich auf einem großen Kissen, sodass ich an sie herankam, und ich schob die Karten mit meinen Fäusten zu Sätzen zusammen. Es war, wie Perlen auf eine Kette zu fädeln, um ein echt cooles Ergebnis zu kriegen.
    Ich brachte sie gerne zum Lachen. Darum schob ich die Karten manchmal in eine verrückte Reihenfolge.
    Der blaue Fisch rennt weg. Er will nicht zum Abendessen werden.
    Sie brachte mir auch Wörter für all die Musik bei, die ich zu Hause hörte. Ich lernte zu unterscheiden zwischen Beethoven und Bach, zwischen einer Sonate und einem Konzert. Sie wählte etwas auf einer CD aus und fragte mich dann nach dem Komponisten.
    Mozart . Ich zeigte auf die richtige Karte unter denen, die sie vor mir ausgebreitet hatte. Dann zeigte ich auf die Farbe Blau.
    »Wie bitte?«, fragte sie.
    Als sie etwas von Bach spielte, zeigte ich auf den richtigen Komponisten, dann deutete ich wieder auf die Farbe Blau auf meiner Tafel. Ich deutete auch auf
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