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Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)

Titel: Mit Worten kann ich fliegen (German Edition)
Autoren: Sharon Draper
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jemandem zu sagen, wie er mich da rausholen kann.
    Oh, Moment! Ich habe Mrs V. vergessen!

Kapitel 6
    Mrs Violet Valencia wohnt nebenan. Veilchen sind lila und Valencia-Orangen sind, na ja, orange eben! Lila Orangen sind schlichtweg ungewöhnlich, und das ist sie auch. Sie ist eine große Frau – über einen Meter achtzig, mit den größten Händen, die ich je gesehen habe. Sie sind riesig! Ich wette, sie könnte einen Basketball in Originalgröße in jeder ihrer Handflächen unterbringen und hätte trotzdem noch Platz. Wäre Mrs V., na ja, sagen wir, ein Baum, dann wäre meine Mom im Vergleich zu ihr ein Zweig.
    Ich war etwa zwei Jahre alt, als ich anfing, bei Mrs V. herumzuhängen. Mom und Dad hatten mich anfangs so gut wie nie bei jemand anderem gelassen, aber manchmal überschnitten sich ihre Arbeitszeiten und sie brauchten eine dritte Person, die einspringen konnte. Mom sagte, dass Mrs V. die allererste Besucherin war, nachdem sie mich aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatten, die erste Person, die mich einfach hochhob wie jedes andere Baby auch. Viele Freunde meiner Eltern hatten Angst, mich überhaupt anzufassen, aber nicht Mrs V.!
    Mrs V. trägt gigantische, wallende Kleider – sie müssen aus kilometerlangen Stoffbahnen bestehen –, alle in verrückten Farbkombinationen. Kaugummipink kombiniert mit Feuerwehrrot, kombiniert mit Pfirsichbrause, kombiniert mit kräftigem Zimtbraun. Und natürlich sämtliche Schattierungen von Orange und Lila. Sie hat mir erzählt, dass sie die Kleider selbst näht. Wahrscheinlich bleibt ihr nichts anderes übrig. Ich habe noch nie etwas Derartiges in irgendeinem Geschäft im Einkaufszentrum gesehen. Oder in einem Krankenhaus.
    Mrs V. und Mom haben früher als Krankenschwestern zusammen im Krankenhaus gearbeitet. Mom hat mir erzählt, dass die Kinder dort begeistert von ihr waren. Sie trug dieselben grellbunten Outfits auf der Frühchenstation, der Kinderkrebsstation, der Station für Kinder mit Brandverletzungen. »Farbe bringt diesen Kindern Leben und Hoffnung!«, hatte sie kühn verkündet und nur darauf gewartet, dass jemand es wagte, ihr zu widersprechen. Ich glaube, niemand hat.
    Ich erinnere mich daran, wie ich das erste Mal auf Mrs V.s Veranda saß. Mom und Dad sahen besorgt aus, aber Mrs V. hielt mich fest und ließ mich auf ihren Knien auf und ab hüpfen. Unter ihren weiten Kleidern muss ein Mikrofon versteckt sein – sie hat eine von diesen Stimmen, die jedermann dazu bringen kann, die Klappe zu halten, sich umzudrehen und zuzuhören.
    »Natürlich passe ich auf Melody auf«, sagte sie mit Bestimmtheit.
    »Na ja, Melody ist, na ja, wie soll ich sagen, etwas Besonderes«, sagte Dad zögerlich.
    »
Alle
Kinder sind etwas Besonderes«, hatte Mrs V. mit Autorität geantwortet. »Aber dieses Kind hier hat Superkräfte. Ich würde ihr gerne dabei helfen, sie zu finden.«
    »Wir können gar nicht so viel zahlen, wie uns Ihre Hilfe wert ist«, begann Dad.
    Mrs V. hatte die Schultern gezuckt und mit einem Lächeln gesagt: »Ich bin dankbar für das, was ihr mir geben könnt.«
    Mein Dad sah verlegen aus. »Also gut, danke. Und dieses Wochenende baue ich die Rampe fertig. Ich muss nur noch einmal zum Holzlager fahren.«
    »Also
das
wäre eine große Hilfe«, hatte Mrs V. genickt.
    »Mit Melody hat man manchmal alle Hände voll zu tun«, hatte Mom gewarnt.
    Mrs V. hob mich in die Luft. »Ich habe große Hände.«
    »Wir wollen, dass sie ihr individuelles Entwicklungspotenzial voll entfaltet«, fügte Dad hinzu.
    »Ach, das ist ja zum Kotzen!«, sagte Mrs V., und Dad zuckte zusammen. »Lasst euch nicht von all diesen gefühlsduseligen Wörtern und Sätzen, die man in Büchern über behinderte Kinder lesen kann, unterkriegen. Melody ist ein Kind, das lernen kann und das lernen wird, wenn sie sich an mich hält!«
    Dad sah beschämt aus. Aber dann grinste er. »Bringen Sie sie in zwanzig Jahren zurück.«
    »Sie wird zum Abendessen zu Hause sein!«
    Und so landete ich unter der Woche meistens für zwei Stunden bei Mrs Valencia, bis Mom oder Dad heimkommen konnten. Als ich älter wurde, ging ich jeden Nachmittag nach der Schule zu Mrs V. rüber. Ich weiß nicht, wie viel sie ihr gezahlt haben, aber es kann gar nicht genug gewesen sein.
    Von Anfang an hatte Mrs Valencia kein Mitleid mit mir. Statt mich in den speziellen kleinen Stuhl zu setzen, den meine Eltern für mich gekauft hatten, legte sie mich auf dem Rücken auf eine große, weiche Decke mitten auf den Boden.
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