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Mister Peanut

Mister Peanut

Titel: Mister Peanut
Autoren: Adam Ross
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selbstbewusster und wagte sich an die verschiedensten Experimente: Sie probierte unterschiedliche Farbtöne auf ihren Lippen aus, die umso voller wirkten, je mehr Gewicht Alice abstreifte; sie tuschte die Wimpern über ihren Augen, die sich mit jedem Monat weiter zu vergrößern schienen; sie trug kürzeres Haar als Rahmen für ihr immer schmaleres Gesicht. Dennoch wirkten die Fotos seltsam traurig, man bekam den Eindruck, es handele sich bei dem Ganzen um ein von einem unwilligen Kameraauge verfolgtes Verwelkungsritual. Sheppard studierte die Polaroids und versuchte, sich ihr mit seiner ganzen Vorstellungskraft zu nähern – erfolglos. Was hatte seine eigene Frau immer gesagt? Wie es hinter der Fassade aussieht, weiß man nie. Er sah sie vor sich, Marilyn, wie sie den Satz aussprach, deutlich konnte er ihr Gesicht erkennen. Er versuchte, das Bild festzuhalten. Sie trug einen Bademantel und stand in der Küche des alten Hauses, sie kehrte ihm den Rücken zu und schaute durchs Fenster auf die Straße, und was sie gesagt hatte, war keine Feststellung gewesen, sondern ein – selbstverständlich an ihn gerichteter – Vorwurf. Diesen Satz, die Enttäuschung und das mitschwingende Bedauern würde Sheppard, er wusste es sofort, bis an sein Lebensende nicht vergessen, ebenso wenig wie er den Augenblick vergessen würde, an dem er Marilyn zum ersten Mal gesehen hatte.
    Die hohen Wohnzimmerfenster der Pepins gingen nach Norden hinaus, und draußen war nun jener letzte Moment der Abenddämmerung gekommen, in dem die Lichter von Manhattan silbern und golden zu glühen beginnen. Das neue Parkett der Pepins hatte die Farbe von Cognac. Zwei identisch aussehende italienische Sofas, lang, niedrig und zierlich wie Calder-Skulpturen, standen sich auf einem Orientteppich gegenüber, dessen Muster nicht weniger komplex war als die Stadt hinter den Fenstern. An den Wänden reichten die Bücherregale bis an die Decke, und die Buchrücken ergaben jene einzigartige Sorte von Tapete, die großen Luxus verrät: Bildung, Ruhe, Zeit zum Lesen. Die Küche war auf dem neuesten Stand: Doppelherd, Granitoberflächen, Naturstein und so viel Edelstahl, dass man den Eindruck bekam, selbst eine Granate hätte hier kaum einen Kratzer hinterlassen. An die Küche schloss sich ein kleines Esszimmer an. Im Flur, der zum Schlafzimmer führte, hingen gerahmte Poster, Screenshots von Computerspielen, über denen der jeweilige Titel prangte ( Peng, du bist tot! , Escher X , Lamm auf der Schlachtbank ), sowie einige Drucke von M. C. Escher – keine Reproduktionen, sondern signierte und nummerierte Originale. Sheppard blieb stehen, um sie zu bewundern. Hatte je ein Künstler das Auge mehr bewegt als dieser holländische Meister? Wer sonst lud den Blick des Betrachters zum Verweilen ein und machte gleichzeitig jeden Versuch zunichte, das Bild in seiner Gesamtheit zu erfassen? Weiße und schwarze Schwäne wanderten über ein Möbiusband. Engel mutierten zu Dämonen und Dämonen zu Engeln, bevor sie schließlich zu einem scheinbar endlosen Mosaik verschmolzen. Sheppard ging weiter. Der Flur führte an einem kleinen Arbeitszimmer vorbei bis ins Schlafzimmer, das mit einem Doppelbett und einem an die gegenüberliegende Wand montierten Plasmafernseher eingerichtet war. Die Regale neben und über dem Kopfende des Betts waren vollgestellt mit Andenken, kleinen Skulpturen und Fotos: sie beim Schwimmen mit einem Delphin; er in einem Hochseekajak; das Paar Arm in Arm, beim Wandern auf Hawaii und winkend auf einer Pariser Brücke. Auf dem letzten Foto sah Alice Pepin unglaublich dick aus.
    Wer behauptet, dass sich Menschen nicht ändern können?
    Im Verhörraum wartete Sheppard darauf, dass Pepin sich sammelte. Der Verdächtige hatte mit krummem Rücken und auf die Tischplatte gestützten Ellenbogen dagesessen und auf seine gefalteten Hände gestarrt, aber nun machte er sich gerade, wischte sich mit dem Handrücken die triefende Nase ab, schniefte und drückte sich die Unterarme vor die nassen Augen. Er räusperte sich, verschränkte die Arme und wirkte plötzlich stark, konzentriert und gefasst. »Na schön«, sagte er, »schießen Sie los.« Er war ein großer, kräftiger Mann mit dicken Würstchenfingern und borstigem, schwarzem Haarwuchs an den Unterarmen. Seine Haare, dachte Sheppard, waren so dicht, dass man einen Bleistift darauf hätte ablegen können. Pepins schwarzer Schnurrbart ging nahtlos in einen Kinnbart über, das schwarze, dichte Haar trug er glatt
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