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Miss Wyoming

Miss Wyoming

Titel: Miss Wyoming
Autoren: Douglas Coupland
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würde. Am Rand von Cheyenne übernahm Susan das Steuer des Minivan.
     

Kapitel Sechsunddreißig
     
     
    Susan saß mit Eugene Junior auf dem Betonabsatz neben dem Propangastank und hielt ihren Sohn im Arm. Sie war so erleichtert, dass sie das Gefühl hatte, keinen einzigen Knochen mehr im Leib zu haben, aber das Kind zeigte keinerlei Anzeichen für etwas anderes als schlichte Freude und Heiterkeit. Randy war losgegangen, um den Tankwart zu beruhigen, der Angst hatte, dieser plötzliche Menschenauflauf könnte eine Bedrohung darstellen. Ivans Handy klingelte; er ging ran, begann Japanisch zu sprechen und zog sich in den Mietwagen zurück. Dreama hielt sich in Susans Nähe, während John, Ryan und Vanessa sich an die geöffnete Toilettentür heranschoben und das grell beleuchtete, aufgelöste Häufchen Elend anstarrten, zu dem Marilyn auf dem Klodeckel zusammengesackt war. Ihre Augen waren geweitet und rot. »Marilyn?« fragte John in den hallenden, gefliesten Raum. Marilyn reagierte nicht. »Alles in Ordnung?« Marilyns Hinterkopf lehnte an der Wand. Sie wandte sich John zu.
    »Soll ich Ihnen etwas holen - eine Kopfschmerztablette? Etwas zu essen? Eine Decke?«
    »Nein«, sagte Marilyn. »Alles in Ordnung. Ich brauche nichts. Wirklich. Ehrlich. Nichts.« Sie schaute John an und bemerkte eine Ähnlichkeit mit Susans Kind, die in gewisser Hinsicht eine Ähnlichkeit mit Eugene Lindsay war. »Sie sind der Vater?« 
    »Nein Ma'am.«
    »Er ist ein hübsches Kind«, sagte sie. »Allerdings.«
    »Susan war allerdings noch hübscher. Im Ernst. Sie sah aus wie eine Porzellan-Figurine. Die Leute kriegten den Mund nicht mehr zu.« Dann funkelte Marilyn Vanessa an. »Sie. Wie haben Sie mich gefunden? Ich wusste, dass was nicht stimmte, als Sie von den Gardinen anfingen. Sie sehen nicht aus wie ein Gardinentyp.«
    Vanessa schnappte nach Luft, endlich einmal um eine Antwort verlegen. Marilyn ließ sie ohnehin nicht zu Wort kommen. »Zur Hölle damit. Ich will das gar nicht wissen. Es würde mich vermutlich zu Tode ängstigen. Ich weiß, ich hätte nicht bei Calumet halten sollen, um meinen Bonus-Scheck abzuholen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. John fand, dass sie wie ein Transvestit aussah. »Also, was ist - seid ihr Bullen oder so was?«
    »Nein. Wir sind Freunde von Susan«, sagte John.
    Randy war gerade zurückgekommen und hatte allen erzählt, dass keine Polizei zu erwarten sei.
    »Ich gehöre ins Gefängnis«, sagte Marilyn. Sie drehte den Kopf, um die graffitilose Wand zu betrachten. »Es wird keine Anzeige geben, Marilyn«, sagte John. Der Dopplereffekt des Verkehrslärms auf der Interstate stieg in den Himmel auf. John dachte knapp eine Woche zurück -als er noch der stundenplanfixierte Roboter war, der die Sechs-Uhr-Nachrichten auf CNN schaute - und er erinnerte sich, wie Doris ihn angebrüllt hatte, er solle endlich ausspucken, was er auf seiner einsamen Wanderung erlebt hatte. John streckte die Arme nach Marilyn aus.
    Marilyn rümpfte verächtlich die Nase. »Nennen Sie mir einen guten Grund, weshalb ich auch nur in Ihre Nähe kommen sollte.«
    John dachte eine Sekunde nach, und ihm fiel ein, was Vanessa ihm über Marilyns Polyandrie erzählt hatte. Wie war noch sein Name? Plötzlich wusste er ihn wieder, und er platzte heraus: »Duran Deschennes hätte gewollt, dass Sie sich mit Susan verstehen.«
    Marilyn stieß einen Fingerhut voll Luft aus, und ihr Gesicht verlor jede Härte und wurde für einen kurzen Moment wieder jung. John konnte erkennen, was für eine Schönheit sie einst gewesen sein musste. Sie schwankte auf ihn zu wie auf einem schlingernden Ponton. Beide gingen nach draußen, wo sie sich neben einen Transformator und ein paar buschige Kiefern setzten. »Wissen Sie, ich war auch schon mal pleite, Marilyn«, sagte er. Marilyn nickte. »Und ich war auch schon mal arbeitslos.« Sie nickte wieder. »Aber vor allem hatte ich niemanden, mit dem ich Abend für Abend um halb sieben essen konnte«, sagte er. »Das war das Schlimmste für mich ... Sonnenuntergang ... halb sieben Uhr abends, und niemand zum gemeinsamen Abendessen.«
    Susan, Randy und Dreama standen neben dem Van. Ihr Atem ging hart und ungleichmäßig. Ivan saß immer noch im Wagen und sprach Japanisch. Ryan und Vanessa hatten sich diskret von John und Marilyn abgewandt, versuchten aber trotzdem, jedes Wort mitzubekommen, und John scheuchte sie fort wie Kinder, die längst ins Bett müssen.
    »Ryan, würdest du Marilyn eine Tasse Kaffee
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