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Miss Seeton kanns nicht lassen

Miss Seeton kanns nicht lassen

Titel: Miss Seeton kanns nicht lassen
Autoren: Heron Carvic
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neulich umgekommen ist.«
    »Umgekommen -?« Das Telefon blieb gefaßt.
    »Ja!« Jestin kreischte fast vor ohnmächtigem Zorn. »Er hat doch die ganzen Kinder umgebracht, und dann ist er neulich umgekommen. Und jetzt ist er wieder da und hat sie mit seiner Pistole bedroht und dann im Auto mitgenommen.«
    »Bitte einen kleinen Augenblick, Sir«, bat das Telefon. Endloses Warten, dann klickte es wieder. »Hier Ashford Police, Chief Inspector Brinton am Apparat. Es handelt sich um Miss Seeton?«
    Noch einmal mußte der arme Jestin alles erklären: Miss Ess, den Decknamen, was sie skizziert hatte und wie sie ihm einen Wink gegeben hatte, und wie sie unter Gewaltandrohung in den Wagen gezwungen wurde; und schließlich gab er auf Befragen den neuen Namen und die neue Adresse des alten Kollegen an.
    Sie fuhren die Virgin’s Lane hinauf bis nach Les Marys – in tiefem Schweigen, das Miss Seeton gern unterbrochen hätte. Es war wirklich nicht einfach – was redete man in einer solchen Lage? Er hatte offenbar keine Neigung, über seine Sorgen zu reden, bevor sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten. Andererseits kam es ihr unhöflich vor, gar nichts zu sagen. Sie sah aus dem Fenster. Das Wetter gab auch nichts her, und – sie blickte ihn an – persönlich durfte man natürlich niemals werden. Immerhin:
    »Wissen Sie, Ihre Schädellänge«, bemerkte sie nachdenklich, »oder vielmehr Ihr Schädelindex, sicher weniger als fünfundsiebzig: Das ist interessant. Zusammen mit dem Epikanthus, meine ich. Soviel ich mich erinnere, habe ich das bisher erst einmal gesehen. Der Kassierer, der früher in der Bank war: der hatte es. Entsinnen Sie sich?«
    O ja, er entsann sich sehr wohl. Alte Hexe mit ihren deutlichen Anspielungen. »Mein Bruder«, sagte er schlicht. Ogottogott, wie entsetzlich. Nein, wie taktlos. Sie hätte doch sehen müssen, daß hier ein Zusammenhang bestand. »Das war ja der Grund, warum ich Ihren Rat brauche«, sagte er mit gebrochener Stimme. Miss Seeton schwieg niedergedrückt. Wieder fuhren sie wortlos weiter.
    Der Wagen hielt vor dem Haus. Er zeigte ihr die Diele und die Räume zu beiden Seiten. Ihr Geschmack waren sie nicht, doch sie stimmte ihm zu, daß der Grundriß geschickt und die Raumausnutzung gut war. Der arme Mann war offenbar nervös und unruhig, was man ja angesichts des Bruders und seiner Taten verstehen konnte.
    Wie sollte er es jetzt anstellen? Einen Unfall mußte sie haben, und zwar ziemlich schnell. Moment – malte sie nicht, die alte Kuh? Also: das Dach; von dort konnte man meilenweit sehen. Jetzt hatte er’s: sie war hergekommen und hatte gebeten, sich die Aussicht einmal ansehen zu dürfen, vielleicht würde sie sie später einmal malen. Er hatte gesagt, er habe nichts dagegen, hatte ihr den Weg nach oben gezeigt und sie dann alleingelassen. Wenn sie runterfiel, war das nicht seine Sache.
    »Für eine Künstlerin wie Sie«, sagte er ernst, »ist das wichtigste natürlich die Aussicht von oben. Bißchen steil, aber wenn Sie die Treppe schaffen, könnte ich Ihnen alles zeigen.« Dann ein Stoß – und das sollte ihm mal einer beweisen, daß das kein Unfall gewesen war. »Ich weiß«, fuhr er traurig fort, »es klingt dumm, aber mir fällt das Sprechen dort oben im Freien viel leichter als hier im Haus.« Er streckte die Hand aus und wies in die Runde. ‘»Dies alles, das wollte ich mit ihm teilen.«
    Reuevoll und entschlossen, keinen weiteren Fauxpas zu begehen, folgte ihm Miss Seeton die Treppe hinauf, bis sie auf dem flachen Dach mit der niedrigen Brüstung standen, wo Miss Seeton etwas atemlos ihr Bestes tat, um bewundernde Worte für die Aussicht zu finden, was ihr jedoch nicht gelang.
    »Hier kann man aber sehr weit sehen«, sagte sie, und das stimmte auch, nur war die Aussicht langweilig. Er führte sie an die Brüstung, und sie blickte hinunter. Sehr weit. Schwindlig wurde man davon. Schnell sah sie auf. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Na also – reichlich vertraulich, aber man durfte wohl nicht vergessen, was der arme Mann durchgemacht hatte.
    Der helle Ton einer Polizeisirene durchschnitt die Luft. Die beiden blieben reglos stehen, als jetzt ein Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht die Einfahrt heraufkam. Männer sprangen heraus und liefen rufend und gestikulierend auf das Haus zu. Noch mehr Wagen, noch mehr Uniformierte. Der Garten war auf einmal voll von Polizisten. Einer richtete ein Sprachrohr auf die beiden Gestalten auf dem Dach und rief etwas hinein, laut und
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