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Mio, mein Mio

Mio, mein Mio

Titel: Mio, mein Mio
Autoren: Astrid Lindgren
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See.
    Wir hockten uns auf den Boden. Wir fühlten uns winzig und verlassen, und wir wußten, das wir sterben mußten, bevor die Nacht zu Ende war.
    »Wenn nur der Tod nicht so schwer wäre«, sagte Jum-Jum. »Wenn nur der Tod nicht so schwer wäre und wir nicht so klein und einsam.«
    Wir hielten uns an den Händen. Fest, ganz fest hielten wir uns an den Händen, wie wir dort auf dem kalten Steinboden saßen, Jum-Jum und ich. Nun war der Hunger über uns, und es war ein Hunger, der keinem anderen glich. Er quälte uns und riß und zerrte in uns und nahm alle Kraft aus unserem Blut. Wir fühlten uns, als müßten wir uns hinlegen und schlafen, um nie mehr zu erwachen. Trotzdem wollten wir nicht schlafen, noch nicht. Wir wollten noch so lange wach bleiben, wie wir 148
    konnten.
    Und wir fingen an, über das Land der Ferne zu reden, während wir auf das Sterben warteten. Ich dachte an meinen Vater, den König, und Tränen traten in meine Augen. Der Hunger hatte mich schon ganz schwach gemacht, und die Tränen flossen langsam über meine Wangen. Jum-Jum weinte auch. »Wenn nur das Land der Ferne nicht so weit weg wäre«, flüsterte er. »Wenn nur die Insel der grünen Wiesen nicht so weit weg wäre und wir nicht so klein und einsam.«
    »Weißt du noch, wie wir über die Hügel auf der Insel der grünen Wiesen wanderten und auf unseren Flöten spielten?« sagte ich. »Weißt du noch, Jum-Jum?« »Ja, aber das ist lange her«, sagte Jum-Jum. »Wir können hier auch auf unseren Flöten spielen«, sagte ich. »Wir können die alte Melodie spielen, bis uns der Hunger überwältigt und wir einschlafen.« »Ja, laß uns noch einmal spielen«, flüsterte Jum-Jum. Und wir nahmen unsere Flöten.
    Unsere müden Hände konnten sie beinah nicht halten.
    Wir spielten die alte Melodie. Jum-Jum weinte, als er sie spielte. Die Tränen rannen über seine Wangen. Vielleicht weinte ich auch sehr, ich auch, ich weiß es nicht. Die alte 149
    Melodie klang schön, aber sie ertönte so schwach, als wisse sie, daß auch sie bald sterben sollte. Aber obwohl wir leise spielten, die verzauberten Vögel hörten uns doch. Sie hörten die schwachen kleinen Töne, und alle kamen sie vor die Fensterscharte geflogen. Durch das Gitter sah ich ihre hellen, traurigen kleinen Vogelaugen.
    Die Vögel verschwanden wieder. Wir konnten nicht mehr weiterspielen.
    »Nun haben wir zum letztenmal gespielt«, sagte ich und steckte meine Flöte in die Tasche zurück. Da war noch etwas in der Tasche. Ich steckte die Hand tiefer hinein, um nachzufühlen, was es war. Es war der kleine Löffel, der einmal Jiris Schwester gehört hatte. Ich wünschte, die verzauberten Vögel würden noch einmal zurückkommen.
    Dann hätte ich ihnen den Löffel zeigen können.
    Vielleicht hätte Jiris Schwester ihren Löffel wiedererkannt. Allein die verzauberten Vögel waren nicht mehr vor unserer Fensterscharte. Ich ließ den Löffel zu Boden fallen, denn meine Hand war so müde.
    »Siehst du, Jum-Jum«, sagte ich, »hier haben wir einen Löffel.«
    »Ja, einen Löffel haben wir«, sagte Jum-Jum. »Aber 150
    was sollen wir mit einem Löffel, wenn wir nichts zu essen haben.«
    Und Jum-Jum legte sich lang auf den Boden und schloß die Augen und vermochte nichts mehr zu sagen. Ich war müde, müde, ich auch. Der Hunger wühlte in mir. Ich mußte etwas essen. Irgend etwas, ganz gleich, was, wenn man es nur essen konnte. Am meisten sehnte ich mich nach dem Brot, das Hunger stillt, aber ich wußte, ich würde es nicht mehr essen. Durstig war ich auch und sehnte mich nach Wasser aus der Quelle, die Durst löscht, aber ich wußte, ich würde es nie mehr trinken.
    Niemals mehr trinken und niemals mehr essen. Ich dachte sogar an die Grütze, die mir Tante Edla morgens immer gegeben und die ich nie gemocht hatte. Sogar die Grütze hätte ich jetzt essen können, und sie hätte mir gut geschmeckt! Oh, wenn ich doch etwas essen könnte …
    irgend etwas!
    Mit meiner letzten Kraft nahm ich den Löffel von Jiris Schwester und steckte ihn in den Mund, als hätte ich etwas zu essen.
    Da spürte ich in meinem Mund etwas Seltsames. Es war etwas auf dem Löffel, was man wirklich essen konnte. Es 151
    schmeckte nach Brot, das Hunger stillt, und nach Wasser aus der Quelle, die Durst löscht. Wasser und Brot waren in dem Löffel, und ich hatte noch nie etwas Köstlicheres geschmeckt. Es erfüllte mich mit Leben, und all mein Hunger verschwand. Und so seltsam war der Löffel, daß er nicht leer wurde. Immer
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