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Mio, mein Mio

Mio, mein Mio

Titel: Mio, mein Mio
Autoren: Astrid Lindgren
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faßte ich Mut und fragte: »Geist, wo kommst du her?«
    Einen Augenblick war es ganz still. Dann sagte der Geist:
    »Aus dem Land der Ferne.«
    Er sagte es so laut, daß es in meinem Kopf dröhnte und sang. In seiner Stimme war etwas, was meine Sehnsucht nach diesem Land weckte. Ich spürte, ich könnte nicht mehr leben, wenn ich nicht in dieses Land dürfte. Und ich streckte dem Geist meine Arme entgegen und rief:
    »Nimm mich mit! Nimm mich mit in das Land der Ferne.
    Dort ist jemand, der auf mich wartet.« Der Geist schüttelte den Kopf. Ich aber hielt ihm den goldenen Apfel hin, und da rief der Geist aus: »Du hältst das Zeichen in deiner Hand! Du bist der, den ich holen soll.
    Du bist der, den der König so lange gesucht hat!«
    Er beugte sich zu mir herab und nahm mich auf in seine Arme. Und es dröhnte und sang um uns, als wir uns in die Luft erhoben. Wir ließen den Tegnerpark weit unter uns, den dunklen Tegnerpark und alle Häuser, in denen die Fenster leuchteten und wo Kinder saßen und mit ihren Vätern und Müttern aßen, während ich, Bo Vilhelm 14
    Olsson, oben unter den Sternen schwebte. Wir waren hoch über den Wolken, und wir schössen vorwärts, schneller als der Blitz und lauter als der Donner. Um uns knisterten Sterne und Sonnen und Monde.
    Manchmal war alles schwarz wie die Nacht, manchmal so strahlend hell und weiß, daß ich die Augen schließen mußte.
    »Er reist durch Tag und Nacht«, flüsterte ich vor mich hin.
    Es war, wie es auf der Karte gestanden hatte. Dann streckte der Geist seine Hand aus und zeigte auf etwas –
    weit in der Ferne –, etwas Grünes, das im hellsten Sonnenschein auf klarem, blauem Wasser dalag. »Dort siehst du das Land der Ferne«, sagte der Geist. Wir schwebten hinab, dem Grünen entgegen. Es war eine Insel, die im Meer schwamm. Und in der Luft war eine seltsame Musik und ein Duft wie von tausend Rosen und Lilien. Unten am Meeresstrand erhob sich ein großes weißes Schloß, und dort landeten wir. Jemand kam den Strand entlang. Es war mein Vater, der König. Ich erkannte ihn sofort, als ich ihn sah. Er breitete die Arme aus, und ich flog an seine Brust. Lange hielt er mich fest.
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    Wir sprachen kein Wort. Ich legte nur die Arme um seinen Hals, so fest ich konnte. Oh, wie wünschte ich mir, daß Tante Edla meinen Vater, den König, hätte sehen können! Wie schön er war und wie seine Kleider glitzerten von Gold und Diamanten! Er hatte Ähnlichkeit mit Benkas Vater, aber er war schöner. Schade, schade, daß Tante Edla ihn nicht sehen konnte! Dann hätte sie begriffen, daß mein Vater kein Lump war.
    Aber Tante Edla hatte damit recht gehabt, daß meine Mutter gestorben war, als ich geboren wurde. Und die dummen Leute im Kinderheim hatten nie daran gedacht, meinem Vater, dem König, Nachricht zu geben, wo ich war. Neun lange Jahre hatte er nach mir gesucht. Aber jetzt bin ich froh, endlich bei ihm zu sein. Nun bin ich schon recht lange hier. Den ganzen Tag über habe ich es schön. Und jeden Abend kommt mein Vater, der König, in mein Zimmer, und wir bauen Modellflugzeuge und sprechen miteinander.
    Ich wachse, und es geht mir gut im Lande der Ferne.
    Und jeden Monat macht mein Vater, der König, einen neuen Strich an der Küchentür, um zu sehen, wieviel ich gewachsen bin.
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    »Mio, mein Mio, unglaublich, wie du schon wieder gewachsen bist«, sagt er, wenn wir nachmessen. »Mio, mein Mio«, sagt er, und es klingt so weich und warm.
    Wenn man darüber nachdenkt, heiße ich überhaupt nicht Bosse. »Neun lange Jahre habe ich dich gesucht«, sagt mein Vater, der König. »Nachts habe ich wachgelegen und gedacht: Mio, mein Mio. Ich muß doch wohl wissen, daß du so heißt.« Da sieht man es. Das mit dem Bosse war so falsch, wie alles andere falsch war – damals in der Upplandsgatan. Und jetzt ist es richtig geworden. Ich liebe meinen Vater, den König, und er liebt mich. Ich wünschte, Benka wüßte von all diesem hier. Ich glaube, ich schreibe ihm alles und stecke den Brief in eine Flasche. Dann korke ich die Flasche zu und werfe sie in das blaue Meer, welches das Land der Ferne umgibt.
    Wenn Benka mit seinen Eltern in dem Sommerhäuschen auf Vaxholm ist, kommt vielleicht die Flasche angeschwommen, gerade wenn er unten am Wasser ist und badet. Das wäre schön. Es wäre schön, wenn Benka von all dem Seltsamen wüßte, was mir geschehen ist.
    Und dann könnte er ja bei der Polizei anrufen und erzählen, daß Bo Vilhelm Olsson, der eigentlich Mio 17
    heißt, gut
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