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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna
Autoren: River
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mein Verrat – alles kommt in der Stille von Boyers altem Zimmer zur Sprache.
    Ich erzähle Stanley, wie ich mit meinen unbedachten Worten die Lawine der Klatschgeschichten losgetreten habe, die Boyers Ruf und den unserer Familie im Ort zerstören sollten. »Und River«, flüstere ich. »Wäre ich in jener Nacht nicht davongelaufen, hätte sich River niemals verirrt und wäre nicht ums Leben gekommen.«
    Endlich, als mir die Tränen schon über die Wangen laufen, erzähle ich ihm von den Marihuanakippen, die ich in Boyers Hütte achtlos in den Müll unter das Spülbecken geworfen hatte. »Ich kann ihn nicht ansehen, ohne mir bewusst zu sein, dass ich für den Brand und für seine Narben verantwortlich bin.«
    Stanley legt beide Arme um mich. Nichts an der Tatsache, dass dieser Mann, den ich erst heute richtig kennengelernt habe, mich umfasst hält, hat einen merkwürdigen Beigeschmack. Ich kann jetzt ein wenig von dem nachempfinden, was meine Mutter in all den Jahren verspürt haben muss, wenn sie im Beichtstuhl ihr Herz ausschüttete.
    Er zieht ein Baumwolltaschentuch aus seiner Hemdtasche. »Du warst sechzehn«, sagt er, »ein Kind. Was für eine Bürde hast du all diese Jahre allein mit dir herumgeschleppt, Natalie! Du bist es, die einen Weg finden muss, diesem sechzehnjährigen Mädchen zu verzeihen.«
    »Das Feuer …«, beginne ich.
    Er zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. »Das Feuer ist vorsätzlich gelegt worden.«
    »Ich weiß, dass die Polizei das vermutet hat, aber …«
    »Nein, sie hat es gewusst, aber konnte – oder wollte – es nicht beweisen. Es hat anonyme Anrufer gegeben, die behaupteten, ein paar Jungs hätten die Balken an der vorderen Tür mit Benzin übergossen und das Feuer gelegt. Euer Vater hat im darauffolgenden Frühjahr einen Benzinkanister gefunden, der ans Seeufer gespült worden war.«
    »Wer …?«
    »Das werden wir nie erfahren. Kinder, die einen dummen Streich gespielt haben, oder ein bornierter Mensch, der einen Rachefeldzug führte.«
    »Und das alles wegen meiner törichten Worte.«
    »Nein, alles die Folge von Vorurteilen«, sagt Stanley ruhig, und ich frage mich, was er und Boyer im Laufe der Jahre wohl haben durchmachen müssen.
    »Aber spielt das jetzt noch eine Rolle?«, fragt er. »Nach all diesen Jahren, spielt es eine Rolle, wie und warum das alles passiert ist? Musst du dich deswegen an deine Schuldgefühle klammern und deinen Bruder aus deinem Leben ausschließen?«
    Da ich nicht antworte, redet er weiter. »Alles vertan.« Er schüttelt den Kopf. »Diese Familie kämpft niemals mit Worten. Sie benutzt Schweigen als Waffe. Und das tut genauso weh. Ihr lasst das, was euch verfolgt, zwischen euch stehen. Ihr beide, du und Boyer, fühlt euch schuldig an Rivers Tod. Aber ihr redet nicht miteinander darüber.«
    Ich bin einen Augenblick sprachlos angesichts der Ungeheuerlichkeit, die er soeben ausgesprochen hat, nicke stumm und stehe dann auf.
    »Sprich mit ihm, Natalie«, sagt er, bevor ich gehe. »Unterschätze seine Fähigkeit zu lieben nicht. Und die zu verzeihen.«
    Später, allein in meinem Zimmer, denke ich über Stanleys Worte nach, während ich nach etwas suche, was ich meiner Enkelin bei ihrer Ankunft schenken könnte.
    Ich blicke auf das Glas mit den Pennys am Fenster. Bald wird sie alt genug sein, um mit dem Pennyspiel zu beginnen. Ein Penny ist heutzutage nicht viel wert, ich weiß, aber es geht ja auch nicht um Geld. Es ist nie um Geld gegangen.
    Ich bücke mich und öffne die Tür zum Stauraum unter dem Dachvorsprung. Meine Gelenke protestieren leise, als ich auf alle Viere gehe. Vielleicht gibt es hier ein paar alte Spielsachen. Ich habe wenig mit Puppen gespielt, aber möglicherweise hat Jenny irgendetwas hinterlassen.
    Spinnweben streifen meine Finger, als ich in eine Holzkiste greife und einen sich klumpig anfühlenden violetten Seagram’s-Sack herausziehe. Ich überlege, ob Kinder heute noch mit Murmeln spielen.
    Hinter der Kiste mit den Murmeln taste ich nach einer zweiten Kiste; sie ist voller Bücher. Ich zerre sie hervor und nehme das zuoberst liegende Büchlein in die Hand. Ich blättere durch A. A. Milnes Kindergedichtband When We Were Very Young .
    Genau das Richtige.
    Als ich Autos die Straße heraufkommen höre, klappe ich das Buch zu.
    Ich hieve mich hoch und gehe zum Fenster. Meine Finger umklammern das Fensterbrett, während ich Boyers Jeep vor dem Haus halten sehe. Ihm folgt eine ganze Fahrzeugkolonne: Morgans Pick-up-Truck,
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