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Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition)
Autoren: Jutta Mehler
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Friedhof zu begleiten.
    »Warum sollte ich? Von solchen Aufmärschen habe ich noch nie viel gehalten. Mir kommen da sofort die Militärparaden despotischer Machthaber in den Sinn.«
    Hans hatte daraufhin richtig erschrocken ausgesehen, und Fanni hatte im ersten Augenblick gedacht, ihr etwas drastischer Vergleich hätte ihn so schockiert. Doch seine Entgegnung belehrte sie eines Besseren.
    »Ich weiß«, hatte Hans niedergeschlagen gesagt und klein beigegeben.
    Das hatte Fanni verblüfft, bis ihr klar wurde, dass Hans ihre Antwort nicht neu war. Offenbar hatte sie sich schon vergangenes Jahr und vielleicht auch das Jahr davor geweigert, dieses inszenierte Friedhofsspektakel mitzumachen.
    Erst einige Zeit nach diesem Gespräch war Fanni klar geworden, welche Folgerung ihre Antwort zuließ: Zwar hatte ihr Gehirn alle bewussten Erinnerungen der letzten sechs Jahre weggesperrt, es verhinderte aber nicht, dass der aus dem Verkehr gezogene Gedächtnisabschnitt Einfluss auf ihr gegenwärtiges Verhalten nahm.
    Sie sind also da, hatte Fanni gedacht. Die Erinnerungen sind noch da, sie werfen Schatten, winken mir zu. Und irgendwann kriege ich sie vielleicht wieder zu fassen.
    »Aber wir werden uns doch nicht den ganzen Tag im Zimmer verschanzen.«
    Fanni schrak zusammen, als sie Schwester Rosas resolute Stimme vernahm. Sie hatte gar kein Klopfen gehört.
    Wetten, die hat überhaupt nicht geklopft! Die schleicht doch immer so verstohlen herum wie diese Kreatur aus »Herr der Ringe«! Gollum! Sie sieht ihm sogar ähnlich!
    Das fand Fanni ungerecht. Zugegeben, Rosa hatte etwas hervortretende Augen und leicht abstehende, breitrandige Ohren. Damit endete die Ähnlichkeit mit Gollum aber auch schon. Im Gegensatz zu dem mutierten Hobbit erfreute sich Rosa einer dichten Haarpracht, kräftiger weißer Zähne und einer Größe von mindestens eins sechzig.
    Aber Trommelschlegelfinger hat sie wie dieser Gollum, und ich schätze, sie ist genauso heimtückisch, obwohl sie immer so betont offen und ehrlich tut!
    »Wir gehen doch jetzt in den Speisesaal hinunter«, fuhr Schwester Rosa fort. »Es ist schon fünf, das Abendessen wird gleich serviert.«
    Fanni versäumte es zu antworten, weil sie wegen der Verwendung des Plurals wieder völlig irritiert war. Warum, fragte sie sich zum x-ten Mal, spricht Schwester Rosa mit den Patienten, als wäre sie mit jedem einzelnen verwachsen wie ein siamesischer Zwilling? Was will sie uns damit zu verstehen geben?
    »Wir sollten uns von den Schrecknissen des heutigen Tages nicht überwältigen lassen und hinuntergehen«, insistierte Schwester Rosa angesichts der Tatsache, dass von Fanni noch immer keine Antwort kam.
    Hans Rot sprang ihr bei. »Ich begleite meine Frau hinunter. Sie sollte wirklich was essen. Die Mittagsmahlzeit hat sie bestimmt ausfallen lassen.«
    Schwester Rosa schenkte ihm ein Lächeln und hob den linken Trommelschlegelzeigefinger. »Auch zum Nachmittagskaffee haben wir uns nicht blicken lassen, dabei gab es so leckere Quarkschnecken.« Sie wandte sich der Tür zu und war schon halb draußen, als ihr offenbar etwas einfiel. Schwungvoll drehte sie sich um. »Wir sollten uns zu Milchbart an den Tisch setzen. Ich habe ihn im Speiseraum unten gesehen, allein und grüblerisch.« Damit eilte sie weiter.
    »Milchbart?«, fragte Hans Rot.
    »Alexander Pauß«, klärte ihn Fanni auf.
    »Der Grapscher?«
    »Er grapscht ja gar nicht.«
    »Milchbart passt zu ihm«, befand Hans Rot.
    Fanni musste ihm zustimmen. Soweit sie gehört hatte, war Alexander gut in den Dreißigern, und von Weitem sah er auch so aus. Er hatte einen soliden Körperbau, eine stattliche Größe und eine aufrechte Haltung. Die kurz geschnittenen Haare wirkten ebenso männlich wie die dunklen geraden Augenbrauen. Seine Haut allerdings glich der eines Babys. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man ein wenig Flaum rund um die blassen Lippen erkennen.
    »Bist du so weit?«
    Fanni verzichtete auf Kamm und Lippenstift, denn Hans Rot hielt bereits die Tür für sie auf. Sie fuhr sich nur schnell mit den Fingern durch die Haare, um sie etwas aufzulockern.
    Den Weg ins Foyer legten sie schweigend zurück. Dort verabschiedete sich Hans, indem er ihr kurz die Hand auf den Arm legte. Mehr hätte ihm Fanni auch nicht erlaubt.
    Eben, solange das Gedächtnis noch nicht wieder intakt ist, bitten wir uns Abstand aus!

3
    Wie stets, wenn sie den Speisesaal der Parkklinik betrat, musste Fanni staunen, wie kunstfertig er dekoriert war. Sie selbst
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