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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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ihre Bahn, auch das Wetter spielt mit hinein, weil meine Mutter sich bei Gewittern fürchtete und sich, wäre in jener Nacht Regen gefallen, an meinen Vater geschmiegt hätte. Aber nein, der Himmel blieb klar, ebenso wie meine Eltern stur blieben. Das Schlafzimmerlicht ging aus. Jeder verharrte auf seiner Seite des Bettes. Schließlich kam von meiner Mutter: »Nacht.« Und von meinem Vater: »Dann bis morgen früh.« Die Augenblicke, die nach und nach zu mir hinführten, fügten sich wie vorherbestimmt. Weshalb sie mir, glaube ich, auch nicht aus dem Kopf gehen.
    Am Sonntag daraufging meine Mutter mit Desdemona und meinem Bruder in die Kirche. Mein Vater, der im Alter von acht Jahren wegen des exorbitanten Preises von Votivkerzen zum Apostaten geworden war, begleitete sie nie. Auch nicht mein Großvater, der es vorzog, seine Vormittage mit den »wiederhergestellten« Gedichten Sapphos zu verbringen, die er ins Neugriechische übertrug. Während der folgenden sieben Jahre arbeitete mein Großvater, trotz wiederholter Schlaganfälle, an einem kleinen Schreibtisch, auf dem er die legendenhaften Fragmente zu einem größeren Mosaik zusammensetzte, hier eine Strophe, da eine Coda ergänzte, einen Anapäst oder einen Jambus lötend mit ihm verband. An den Abenden spielte er seine Bordellmusik und rauchte eine Wasserpfeife.
    1959 war die griechisch-orthodoxe Himmelfahrtskirche in der Charlevoix Avenue. Dort sollte ich weniger als ein Jahr später getauft und im orthodoxen Glauben erzogen werden. Die Himmelfahrtskirche mit ihrem Priesterkarussell: jeder einzelne vom Patriarchat in Konstantinopel eigens zugewiesen, jeder einzelne bei seiner Ankunft im Vollbart seiner Autorität, in den bestickten Gewändern seiner Heiligkeit, und doch wurde nach einer gewissen Zeit, ein halbes Jahr war die Regel, jeder der Sache überdrüssig - wegen der Kabbeleien in der Gemeinde, wegen der Kritik an der Art, wie er sang, wegen der beständigen Notwendigkeit, die Gemeindemitglieder, die den Kirchenraum mit der Zuschauertribüne des Tiger-Stadions verwechselten, zum Schweigen zu bringen, und schließlich wegen der Mühe, eine Predigt jede Woche zweimal zu halten, erst auf Griechisch, dann auf Englisch. Die Himmelfahrtskirche mit ihren lebhaften Kaffeekränzchen, ihrem schlechten Fundament und den Lecks im Dach, ihren ermüdenden folkloristischen Kirchenfesten, ihren Katechismusstunden, in denen unser Erbe noch eine Weile in uns wach gehalten wurde, bevor es in der großen Diaspora sterben durfte. Tessie und Begleitung schritten den Mittelgang entlang, vorbei an den sandgefüllten Schalen mit den Votivkerzen. Über ihnen, wuchtig wie ein Festwagen bei Macy's Thanksgiving Day Parade, war der Christus Pantokrator. Er schwang sich durch das Gewölbe wie der Weltraum selbst. Anders als die leidenden, erdgebundenen, auf Augenhöhe an die Kirchenwände gemalten Christus-Figuren war unser Christus Pantokrator eindeutig transzendent, allmächtig, himmelumspannend. Er beugte sich zu den Aposteln über dem Altar hinab, um ihnen die vier aufgerollten Pergamente mit den Evangelien zu überreichen. Und meine Mutter, die sich ihr ganzes Leben lang bemühte, an Gott zu glauben, ohne dass ihr das so recht gelingen wollte, blickte, damit ihr der Weg gewiesen werde, zu ihm hoch.
    Die Augen des Christus Pantokrator flackerten im trüben Licht. Sie schienen Tessie nach oben zu saugen. Durch den wabernden Weihrauch schimmerten die Augen des Erlösers wie Fernseher, die Bilder jüngster Ereignisse sendeten...
    Erst war es Desdemona, die, in der Woche davor, ihrer Schwiegertochter Ratschläge gegeben hatte. »Warum du willst noch mehr Kinder, Tessie?«, hatte sie mit bemühter Nonchalance gefragt. Dabei hatte sie sich gebückt, um in den Herd zu schauen und die Bestürzung auf ihrem Gesicht zu verbergen (eine Bestürzung, die weitere sechzehn Jahre ungeklärt bleiben sollte), und diesen Gedanken beiseite gewedelt. »Mehr Kinder, mehr Ärger...«
    Dann war es Dr. Philobosian, unser betagter Hausarzt. Uralte Diplome hinter sich, fällte der Doktor sein Urteil. »Unsinn. Das männliche Sperma soll schneller schwimmen? Hören Sie. Der erste Mensch, der Sperma unterm Mikroskop betrachtet hat, war Leeuwenhoek. Wissen Sie, wie das für ihn aussah? Wie Würmer...«
    Und schon war wieder Desdemona zur Stelle, diesmal mit einem anderen Aspekt: »Gott entscheidet, was ist Baby. Nicht du...«
    Diese Szenen gingen meiner Mutter während der nicht enden. wollenden Sonntagsmesse
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