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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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existiert zu haben, um meine Mutter umzustimmen. Auf der Toilette hielt sich das Mädchen die dampfende Bluse vom Körper, während Tessie feuchte Handtücher holte. »Ist alles in Ordnung, mein Schätzchen? Hast du dich auch nicht verbrannt?«
    »Der Junge, der ist sehr ungeschickt«, sagte das Mädchen.
    »Kommt vor, ja. Immerzu passiert ihm was.«
    »Jungen können sehr ungebärdig sein.«
    Tessie lächelte. »Du kannst aber schon schwierige Wörter.« Bei diesem Kompliment strahlte das Mädchen übers ganze Gesicht. »›Ungebärdig‹ ist mein Lieblingswort. Mein Bruder ist sehr ungebärdig. Letzten Monat war mein Lieblingswort ›schwülstig‹. Aber ›schwülstig‹ kann man nicht so oft anwenden. Schwülstig sind nicht sehr viele Dinge. Wenn man's bedenkt.«
    »Da hast du wohl Recht«, sagte Tessie und lachte. »Aber ungebärdig passt immer.«
    »Wie Recht Sie haben«, sagte das Mädchen.
    Zwei Wochen später. Ostersonntag, 1959. Die Treue unserer Religion zum Julianischen Kalender hat uns wieder einmal aus dem Takt mit der Nachbarschaft gebracht. Zwei Sonntage zuvor sah mein Bruder zu, wie die anderen Kinder aus der Straße bunte Eier im Gebüsch suchten. Er beobachtete, wie seine Freunde Schokoladenhasen den Kopf abbissen und sich ganze Hände voll Gummibonbons zwischen die kariösen Zähne warfen. (Während er so am Fenster stand, wollte mein Bruder mehr als alles andere auf der Welt an einen amerikanischen Gott glauben, der am richtigen Tag auferstanden war.) Erst gestern durfte Pleitegeier schließlich seine eigenen Eier färben, wenn auch nur in einer Farbe: Rot. Im ganzen Haus blinken rote Eier in länger werdenden Sonnwendstrahlen. Rote Eier füllen Schalen auf dem Esstisch. Sie hängen in Netzsäckchen über Türen. Sie drängen sich auf dem Kaminsims und werden in kreuzförmige tsoureki-Laibe eingebacken.
    Jetzt aber ist es später Nachmittag, das Mittagessen ist vorbei. Und mein Bruder lächelt. Weil nun der Teil des griechischen Osterfestes kommt, den er Eiersuchen und Gummibonbons vorzieht: das Eierstoßspiel. Alle setzen sich um den Esstisch. Pleitegeier beißt sich auf die Lippe, wählt ein Ei aus der Schale aus, begutachtet es, legt es wieder zurück, wählt ein anderes. »Das sieht doch ganz gut aus«, sagt Milton und nimmt sich selber eins. »Robust wie ein Brinks-Laster.« Milton hebt sein Ei hoch. Pleitegeier bereitet sich auf den Angriff vor. Da tippt meine Mutter meinem Vater unvermittelt auf den Rücken.
    »Augenblick noch, Tessie. Wir machen gerade Eierstoßen.« Sie tippt fester.
    »Was?«
    »Meine Temperatur.« Sie macht eine Pause. »Sechs Zehntel gestiegen.«
    Sie hatte gemessen. Es ist das Erste, was mein Vater davon hört.
    »Jetzt?«, flüstert mein Vater. »Herrgott, Tessie, bist du sicher?«
    »Nein, bin ich nicht. Du hast gesagt, ich soll auf jede Erhöhung meiner Temperatur achten, und ich sage dir, jetzt ist sie um sechs Zehntel eines Grades höher.« Und, die Stimme senkend: »Außerdem sind es jetzt dreizehn Tage seit meiner letzten du weißt schon.«
    »Komm endlich, Dad«, drängt Pleitegeier.
    »Auszeit«, sagt Milton. Er legt sein Ei in den Aschenbecher.
    »Das ist meins. Keiner rührt es an, bis ich wieder da bin.«
    Oben, im Elternschlafzimmer, vollziehen meine Eltern den Akt. Der natürliche Anstand eines Kindes hält mich davon ab, mir die Szene im Detail auszumalen. Nur dies: Sowie die beiden fertig sind, sagt mein Vater, als habe er gerade sein Auto voll getankt:
    »Das dürfte genügen.« Wie sich herausstellt, hat er Recht. Im Mai erfährt Tessie, dass sie schwanger ist, und das Warten beginnt.
    Sechs Wochen später habe ich Augen und Ohren. Nach sieben Wochen Nasenlöcher, sogar Lippen. Meine Genitalien bilden sich aus. Fetale Hormone hemmen auf Weisung der Chromosomen Müllersche Strukturen, fördern die Entwicklung Wolffscher Gänge. Meine dreiundzwanzig paarigen Chromosomen haben sich aneinander gekoppelt und verschränkt, drehen ihr Rouletterad, als mein papou meiner Mutter die Hand auf den Bauch legt und »Ihr beiden Glücklichen!« sagt. Zu Regimentern aufgestellt, führen meine Gene die Befehle aus. Alle bis auf zwei, ein Paar Schufte - oder Revolutionäre, je nach Blickwinkel -, die sich auf Chromosom fünf verstecken. Gemeinsam ziehen sie ein Enzym ab, was die Produktion eines bestimmten Hormons stoppt, was mein Leben schwierig macht.
    Im Wohnzimmer politisieren die Männer nicht mehr, sondern schließen Wetten ab, ob Milts zweites Kind ein Junge
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