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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Seidenhandels, an deren stillen, abschüssigen Straßen Minarette und Zypressen aufragten. Die Ziegel der Grünen Moschee waren mit dem Alter blau geworden, aber das war es dann auch schon. Desdemona Stephanides jedoch, der Kiebitz aus der Ferne, blickte auf das Brett hinab und sah, was den Spielenden entgangen war.
    Um das Herzklopfen meiner Großmutter psychologisch zu durchleuchten: Es war der Ausdruck von Kummer. Ihre Eltern waren tot - umgekommen kurz zuvor im jüngsten Krieg mit den Türken. Die griechische Armee war, ermuntert von den Verbündeten, 1919 in die Westtürkei einmarschiert, um sich das alte griechische Territorium in Kleinasien zurückzuholen. Nachdem sie jahrelang abgeschieden auf dem Berg gelebt hatten, waren die Leute von Bithynios, dem Dorf meiner Großmutter, herausgetreten in die Sicherheit der Megali Idea der Großen Idee, des Traums von einem Großgriechenland. Nun hielten griechische Truppen Bursa besetzt. Über dem ehemaligen Osmanenpalast wehte die griechische Fahne. Die Türken und ihr Anführer, Mustafa Kemal, hatten sich in den Osten nach Angora zurückgezogen. Zum ersten Mal in ihrem Leben standen die Griechen in Kleinasien nicht mehr unter türkischer Herrschaft. Nun war es den Giaurs (»den ungläubigen Hunden«) nicht mehr untersagt, helle Kleidung zu tragen oder auf einem Pferd zu reiten, erst recht mit Sattel. Nie wieder würden, wie in den Jahrhunderten zuvor, jedes Jahr osmanische Beamte ins Dorf kommen und die kräftigsten Burschen zum Dienst bei den Janitscharen abtransportieren. Wenn die Männer des Dorfs nun mit ihrer Seide auf den Markt von Bursa gingen, waren sie freie Griechen in einer freien griechischen Stadt.
    Desdemona jedoch, die um ihre Eltern trauerte, war noch gefangen in der Vergangenheit. Und so stand sie auf dem Berg, blickte hinab auf die befreite Stadt und fühlte sich betrogen von ihrem Unvermögen, wie alle anderen glücklich zu sein. Viel später, als sie längst verwitwet war, ein Jahrzehnt lang das Bett hütete und mit großer Lebenskraft zu sterben versuchte, sollte sie schließlich einräumen, dass jene zwei Zwischenkriegsjahre ein halbes Jahrhundert zuvor die einzige passable Spanne Zeit in ihrem Leben gewesen waren, aber da lagen schon alle, die sie von damals gekannt hatte, unter der Erde, sodass sie es nur dem Fernseher sagen konnte.
    Fast eine ganze Stunde hatte sich Desdemona bemüht, ihre Vorahnung zu ignorieren, indem sie sich in der Seidenraupenzucht an die Arbeit machte. Sie war zur Hintertür des Wohnhauses hinausgetreten und durch den Laubengang mit den süß duftenden Trauben und über den terrassierten Garten in die niedrige Strohdachhütte gegangen. Der beißende Larvengeruch störte sie nicht. Die Seidenraupenzucht war ihre ureigene, stinkende Oase. Um sie herum hielten sich, an einem Himmelsgewölbe, Seidenraupen an gebündelte Maulbeer zweige geklammert. Desdemona sah ihnen zu, wie sie Kokons spannen, den Kopf bewegten wie zu Musik. Dabei vergaß sie die Außenwelt, deren Wandel und Erschütterungen, deren schreckliche neue Musik (die gleich gesungen werden wird). Stattdessen hörte sie ihre Mutter, Euphrosyne Stephanides, wie sie Jahre zuvor an eben diesem Ort gesprochen, Licht in die Mysterien der Seidenraupen gebracht hatte - »um gute Seide zu bekommen, muss man rein sein«, hatte sie ihrer Tochter immer gesagt. »Die Seidenraupen wissen alles. An der Beschaffenheit der Seide erkennt man, was die Leute im Sinn haben« - und so weiter, wobei sie Beispiele gab - »Maria Poulos, die für jeden den Rock hebt? Hast du ihre Kokons gesehen? Für jeden Mann ein Fleck. Bei der nächsten Gelegenheit achte mal darauf« -, Desdemona war da erst elf oder zwölf und glaubte jedes Wort, sodass sie nun, als junge Frau von einundzwanzig Jahren, die moralischen Geschichten ihrer Mutter noch immer ein wenig glaubte und die Kokon- Konstellationen nach Zeichen ihrer eigenen Unreinheit absuchte (was sie nicht alles geträumt hatte!). Auch nach anderen Dingen suchte sie, weil ihre Mutter darüber hinaus behauptet hatte, dass Seidenraupen auf historische Gräuel reagierten. Nach jedem Massaker, und wenn es in einem Dorf hundert Kilometer weiter stattgefunden hatte, würden die Fäden der Seidenraupen die Farbe von Blut annehmen - »ich habe sie bluten sehen wie Christos' Füße«, und Euphrosynes Tochter kniff Jahre später, in Erinnerung daran, die Augen in dem schwachen Licht zusammen, um zu prüfen, ob Kokons sich vielleicht rot gefärbt hatten.
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