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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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sagen, die Faust hin. Automatisch machte Lefty, während er sich noch im Spiegel bewunderte, ebenfalls eine Faust. Sie zählten: »Eins, zwei, drei... los!«
    »Stein erschlägt Schlange. Ich hab gewonnen«, sagte Desdemo na. »Also sag's.«
    »Was soll ich dir sagen?«
    »Was in Bursa so interessant ist.«
    Lefty kämmte sich die Haare wieder nach vorn und zog den Scheitel links. Er warf den Kopf im Spiegel vor und zurück.
    »Was sieht besser aus: links oder rechts?«
    »Lass mal sehen.« Desdemona hob sanft die Hand zu Leftys Haar - und zerwuschelte es.
    »He!«
    »Was willst du in Bursa?«
    »Lass mich in Ruhe.«
    »Sag's mir!«
    »Du willst es wissen?«, sagte Lefty, nun wütend auf seine Schwester. »Was glaubst du wohl?« Er sprach mit angestauter Heftigkeit. »Ich will eine Frau.«
    Desdemona fasste sich an den Bauch, schlug sich aufs Herz. Sie trat zwei Schritte zurück und musterte ihren Bruder von dieser Warte aus erneut. Die Vorstellung, dass Lefty, der ihre Augen und Brauen hatte, der in dem Bett neben ihrem schlief, von einem solchen Begehren ergriffen sein könnte, war ihr nie in den Sinn gekommen. Wenngleich längst ausgewachsen, war Desdemona ihr Körper noch immer fremd. Nachts im Schlafzimmer hatte sie gesehen, wie ihr schlafender Bruder sich auf seine Hanfmatratze presste, als wäre er wütend auf sie. Als Kind hatte sie ihn manchmal in der Seidenraupenzucht überrascht, wie er sich unschuldig an einem Holzpfosten rieb. Doch nichts davon hatte ihr zu denken gegeben. »Was tust du da?«, hatte sie Lefty gefragt, der damals acht, neun Jahre alt gewesen war und, den Pfosten umschlungen, sich mit den Knien auf- und abwärts bewegt hatte. Mit fester, entschlossener Stimme hatte er geantwortet: »Ich will das Gefühl kriegen.«
    »Was für ein Gefühl?«
    »Weißt schon« - grunzend, keuchend, die Knie beugend -, »das Gefühl eben.«
    Doch sie hatte es nicht gewusst. Jahre mussten noch vergehen, bevor Desdemona sich beim Gurkenschneiden gegen die Ecke des Küchentischs drückte und, ohne es zu merken, ein wenig fester dagegen drückte und irgendwann feststellte, dass sie diese Haltung täglich einnahm, die Tischecke hübsch zwischen den Beinen. Wenn sie nun ihrem Bruder das Essen machte, erneuerte sie manchmal ihre Bekanntschaft mit dem Esstisch, war sich dessen aber nicht bewusst. Ihr Körper tat das, schlau und stumm wie Körper überall.
    Mit den Ausflügen ihres Bruders in die Stadt verhielt es sich anders. Er wusste anscheinend, wonach er suchte; er stand in lebhaftem Austausch mit seinem Körper. Geist und Körper waren bei ihm zur Einheit geworden, dachten einen Gedanken, waren aus auf ein und dieselbe Obsession, und zum ersten Mal überhaupt konnte Desdemona, was er dachte, nicht erfassen. Sie wusste nur, es hatte nichts mit ihr zu tun.
    Das trieb sie um. Und machte sie vermutlich auch ein wenig eifersüchtig. War sie denn nicht seine beste Freundin? Hatten sie einander nicht immer alles gesagt? Kümmerte sie sich nicht um alles, kochen, nähen, das Haus in Ordnung halten wie früher ihre Mutter? Hatte sie nicht ganz allein die Seidenraupen versorgt, damit er, ihr kluger kleiner Bruder, beim Priester Unterricht nehmen, Altgriechisch lernen konnte? War nicht sie diejenige gewesen, die sagte: »Du hast die Bücher, ich habe die Seidenraupenzucht. Du musst nur die Kokons auf dem Markt verkaufen.« Und als er dann immer länger in der Stadt geblieben war, hatte sie sich darüber beschwert? Hatte sie die Papierschnipsel, seine roten Augen, den moschussüßen Geruch in seinen Sachen erwähnt? Desdemona argwöhnte, dass ihr verträumter Bruder zum Haschischraucher geworden war. Wo Rembetikamusik war, da war auch Haschisch. Lefty konnte mit dem Verlust der Eltern nur fertig werden, wie er es eben tat: indem er in einer Haschischwolke verschwand, berieselt von der mit Abstand traurigsten Musik der Welt. Das alles verstand Desdemona und hatte daher auch nichts gesagt. Nun aber sah sie, dass ihr Bruder seinem Kummer auf eine Weise entkommen wollte, wie sie es nicht erwartet hatte; und sie war nicht mehr willens, den Mund zu halten.
    »Eine Frau willst du?«, fragte Desdemona ungläubig. »Was für eine Frau? Eine Türkin?«
    Lefty sagte nichts. Nach seinem Ausbruch war er wieder mit Kämmen beschäftigt.
    »Vielleicht willst du ja ein Haremsmädchen. Ist das so? Du glaubst wohl, ich weiß nichts von diesen Dingern, diesen pouta nes? O doch. Ich bin ja nicht dumm. Du magst es, wenn dir ein fettes Mädchen
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