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Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Titel: Messias-Maschine: Roman (German Edition)
Autoren: Chris Beckett
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widerfahren sein, denn ich glaube, dass sie eine wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen hat, weil das neutral, faktenorientiert, sicher ist – weitab von den schmerzlichen und unübersichtlichen Realitäten des menschlichen Lebens. (So sah man die Wissenschaft in den Zeiten vor der Reaktion.)
    Sie schottete sich zusammen mit ihrem Roboterassistenten Joe in ihrem Labor in Chicago von allem ab und arbeitete, arbeitete, arbeitete. Abends ging sie allein nach Hause in ihre wohlgeordnete kleine Wohnung, in der sie sich um ihre Zimmerpflanzen und ihre Sammlung viktorianischer Porzellantassen kümmerte …
    In Indien massakrierten die Hindu-Extremisten die industrielle Elite. In Israel putschten sich die Ultra-Orthodoxen an die Macht. In Zentralasien wurde die gewaltige Statue des Heiligen Märtyrers errichtet, und täglich kamen Tausende von Pilgern nach Taschkent und gaben ihr Blut, damit der Strom aus den Wunden des Bildnisses niemals versiegte … Doch Ruth ging weiterhin jeden Morgen um acht zur Arbeit und extrahierte DNS aus genmanipulierten Hühnerembryos und sah den ganzen Tag lang kaum jemanden außer Joe.
    Dann kamen die Erwählten nach Chicago. Sie versammelten sich zu Massengebeten, bei denen Tausende zu Jesus fanden und sich ihrer Sache verschrieben, sie zogen auf der Suche nach Abtreiberinnen, Homosexuellen und Ungläubigen durch die Straßen … Angefeuert von eifernden Predigern erhoben sich die einfachen Leute Amerikas gegen die weltliche Ordnung, die ihrem Leben den Sinn genommen hatte. Die Polizei stand daneben. Die Regierung schaute weg. Alle erkannten, dass ein Damm gebrochen war. Selbst der Präsident versuchte, seinen Frieden mit den Erwählten zu machen.
    Und Ruth trank um elf Uhr morgens einen Kaffee und gönnte sich zehn Minuten, um in ihrer Porzellansammlerzeitschrift zu lesen. Sie wollte die Rufe auf den Straßen nicht hören. Sie wollte die brennenden Häuser nicht bemerken, die aus ihrem Laborfenster im vierten Stock deutlich zu sehen waren. Bis sie plötzlich bei ihr die Tür eintraten, die Brutkästen aufrissen, die Reagenzgläser vom Tisch auf den Boden wischten …
    Joe wurde vor ihren Augen zertrümmert. Er rollte mit den Stielaugen, und durch seinen Lautsprecher krächzte er in zufälliger Reihenfolge sein Repertoire an hilfsbereiten Sätzen: »Könnten Sie das bitte wiederholen … Ich helfe gerne … Einen angenehmen Tag noch …«
    Sie sagten Ruth, dass sie sich sündig am heiligen Geschenk des Lebens vergangen habe. Man schor ihr den Kopf kahl. In Sackleinen gekleidet führte man sie zu jener berüchtigten Tribüne am See, wo später Mrs. Ullman sterben sollte.

    »Ist schon gut, Ruth, ist schon gut …«

    Sie sprach nie davon, aber man kann die Vorgänge aus zahllosen anderen Berichten rekonstruieren:
    Die Menge grollt und brodelt. Ein hochgewachsener, gutaussehender Prediger mit geföhntem Haar und im weißen Anzug brüllt wie ein Stier von Jesus und vom Höllenfeuer. Die erste in Sackleinen gekleidete Gestalt wird vorgeführt. Es handelt sich um einen Kosmologen namens Suzuki. Mit versagender Stimme gesteht er, gelehrt zu haben, dass die Welt vor Milliarden von Jahren mit dem Urknall ihren Anfang nahm, obwohl er nun weiß, dass sie vor nur fünftausend Jahren in sechs Tagen erschaffen wurde.
    »Und das hast du eigentlich schon immer gewusst, Bruder Suzuki«, sagt der Prediger streng.
    Suzuki schluckt. Die Menge buht. Jemand wirft ein Ei, das den Gelehrten an der Stirn trifft und ihm langsam übers Gesicht rinnt. Noch immer zögert Suzuki. Der Prediger dreht sich stirnrunzelnd zu ihm um.
    Suzuki hebt den Kopf ans Mikrofon.
    »Ich … ich wusste es schon immer. Möge Gott mir meine … Sünde vergeben.«
    Der Prediger legt Suzuki den Arm um die Schultern. »Bruder Suzuki. Lass Jesus in dein Herz ein, dann wirst du errettet werden.«
    Die Menge gerät in Wallung, beruhigt sich und beginnt erneut zu wogen wie ein ruheloser Ozean. Suzuki wird weggebracht und ein junger Computerwissenschaftler namens Schmidt ans Mikrofon geführt.
    »Ich wollte nie andeuten, dass unsere Programme mit dem menschlichen Verstand konkurrieren könnten. Sie sollten nur bestimmte Aspekte der …«
    Der Prediger brüllt ihn an: »Gestehe deine Sünde, Bruder, gestehe deine Sünde! Mach es nicht noch schlimmer!«
    »Teert ihn! Federt ihn! Teert ihn! Federt ihn!«, tobt der große dunkle Ozean.
    Der Computerwissenschaftler schaut sich verzweifelt zu der Ansammlung von in Sackleinen gekleideten
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