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Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Titel: Messias-Maschine: Roman (German Edition)
Autoren: Chris Beckett
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vertracktes Labyrinth, das einen auf immer wieder neuen Wegen durch die Geschichte der Wissenschaften führte. Mein Vater ließ mich sogar mal in einem der Riesenräder fahren, obwohl er selbst mich dabei nicht begleitete. Doch es gab auch Monate, in denen er mich mir selbst überließ, nachdem er mich abgeholt hatte. Dann log ich Ruth etwas darüber vor, was wir den ganzen Tag getrieben hatten, damit ich mir nicht von ihr anhören musste, was für ein übler Kerl mein Vater sei. Immerhin war er ein herausragender Wissenschaftler, niemand Geringerer als der Erfinder der diskontinuierlichen Bewegung, und er hatte wirklich keine Zeit für Kinder, vor allem nicht für ein Kind wie mich.
    (Übrigens starb er, als ich zehn war. Es war ein Arbeitsunfall, und seine Leiche wurde nie gefunden. Er hatte damals neue Anwendungsmöglichkeiten für die diskontinuierliche Bewegung ausgelotet und dabei nach Wegen gesucht, Löcher in den Raum zu stanzen, durch die man an weit entfernte Orte gelangen konnte. Vielleicht liegt seine Leiche also irgendwo dort draußen, auf einem Planeten, der um eine ferne Sonne kreist.)

    Doch nun kehrte ich dem Leuchtturm und dem Meer den Rücken und folgte der großen Straße der Wissenschaften. Ich kam am Nachrichtengebäude mit seinem gewaltigen Bildschirm vorbei. Der zeigte gerade Präsident Ullmans Gesicht auf einer Höhe von vierzig Stockwerken, während er seine Rede zum Jahrestag des Territorialerwerbs hielt, den er selbst ausgehandelt hatte, um unseren einzigartigen Wissenschaftlerstaat zu gründen. Daran schloss sich der Turm der Gemeinschaft der Vernunft an sowie die glänzenden Hauptquartiere von IBM, Sony, Esso, Krupp und einer Reihe anderer Riesenfirmen, die zusammen mit den Flüchtlingen hierher umgezogen waren. Alle zehn Meter standen Fahnenmasten, an denen abwechselnd die zahlreichen Flaggen der ausgelöschten weltlichen Nationen flatterten, aus denen unser Volk stammte, und die schwarz-weiße Flagge Illyriens. Auf Letzterer war ein weit geöffnetes Auge abgebildet – im Gegensatz zu den aus blindem Vertrauen geschlossenen Augen, die uns von allen Seiten umgaben.
    Ich ging weiter und weigerte mich, mir einzugestehen, worauf ich zusteuerte.

    Vor dem Senatsgebäude gab es irgendeinen Aufruhr. Eine kleine Gruppe griechischer Gastarbeiter demonstrierte dort. Sie hatten sich auf die Straße gesetzt und hielten Schilder in die Höhe, auf denen mit vielen Rechtschreibfehlern zu lesen stand:
»LASST UNS BITE OHSTERN UND WEINACHTEN FEIERN.«
»WIR WOLLEN UNSERE TRADIZIONEN IN FRIDEN AUSÜBEN.«
»LEBT UND LASZT UNS LEBEN.«
    Um sie herum stand eine zornig rufende Menge von Illyriern. Ein Dutzend Polizeiroboter sammelte die Demonstranten in Zweiergrüppchen ein und lud sie so unaufgeregt und leidenschaftslos in mehrere Mannschaftswagen, als wäre es altes Verpackungspapier, das weggeräumt werden musste.
    »Schmeißt sie alle raus!«, schrie plötzlich eine dünne kleine Frau in mittleren Jahren direkt neben mir. (Sie erinnerte mich an Ruth, obwohl sie einen englischen Akzent hatte.) »Christen! Juden! Muslime! Schmeißt all die verräterischen kleinen Hetzer raus!«
    Ihre Augen traten ihr vor Hass und Angst aus dem Schädel.
    »Oder vergast sie am besten gleich«, keuchte der gebückte, zitternde Mann neben ihr.
    Wer konnte schon sagen, was für Geister der Vergangenheit sie heimsuchten? Das Feuer von Oxford? Das Massaker im Wissenschaftspark? Während die Erwählten in Amerika ihre Theokratie errichtet hatten, hatten die Engländer noch ein Weilchen versucht, die Reaktion in Schach zu halten, indem sie ihre besitzlosen Klassen hinter hohen Zäunen weggesperrt hatten. Doch letztlich waren auch bei ihnen die Dämme gebrochen.
    Ich kehrte alldem den Rücken zu, ging die Darwin-Straße hinunter ins Ausgehviertel, wo sich die Restaurants, die Theater und die Kinos befanden, und …
    Aber ich gestattete mir noch immer nicht, an mein Ziel zu denken.

Kapitel 4
    I ch war da, stand auf dem roten Teppich in der Eingangshalle, roch den übelkeiterregenden Geruch nach Desinfektionsmitteln und hörte die dahinplätschernde Dudelmusik.
    »Guten Abend, Sir. Haben Sie einen Termin?«
    Die Rezeptionistin war ein Syntec und sah aus wie eine mollige, fröhliche Frau in den mittleren Jahren.
    Mein Mund war so trocken, dass ich kaum ein Wort herausbrachte.
    »Nein … ich …«
    »Möchten Sie sich etwas von der Karte aussuchen – oder wollen Sie eins unserer Spezialangebote? Oder möchten Sie in die
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