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Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Titel: Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Autoren: Hammesfahr Petra
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Jahr bewachte er eine alte Gießerei, die aus einem Fabrikgebäude und einer Lagerhalle bestand, in der Halle waren auch die Büros untergebracht. Es war ein ruhiger Job, um nicht zu sagen, langweilig. Aber langweilig war ihm nicht, er drehte gewissenhaft jede Nacht Runde um Runde über das menschenleere Gelände, kontrollierte halbstündlich sämtliche Schlösser und Fenster, das Tor und den Zaun. Das war besser, als in einem Bett zu liegen, in die Dunkelheit zu starren und den nackten Hintern eines arbeitslosen Elektrikers vor sich sehen.
    Vormittags schlief er. Und nachmittags – er brauchte nicht lange, um die Adresse seiner Frau ausfindig zu machen. Sie war in der Stadt geblieben, nur von einem Ende ans andere gezogen, in eine noble Gegend, wie in eine andere Welt. Ein paar Mal fuhr er schon kurz nach Mittag hin, obwohl er mit dem Rad über eine Stunde brauchte.
    Dann stand er auf der Straße im Schatten eines Alleebaumes, fror, auch wenn es um die zwanzig Grad waren, und hoffte darauf, dass sie aus dem Haus kam. Ein phantastisches Haus, eine richtige Villa mit einem großen Garten davor und einem noch größeren dahinter. Er wusste nicht einmal genau, warum er dort stand. Vielleicht nur, um sich selbst etwas zu beweisen. Sie leibhaftig vor sich sehen, nicht in einem Traum, wo man sich nicht wehren konnte gegen das, was auf einen einstürmte. Wo man so hilflos war. Sie noch einmal wirklich sehen, dabei in sich hineinhorchen und feststellen, dass da nichts mehr war. Es konnte doch rein theoretisch nichts mehr da sein nach fünfzehn Jahren.
    Zweimal sah er ein Auto aus der Garage fahren und meinte, sie hinterm Steuer erkannt zu haben. Aber das mochte täuschen, weil sich die Sonne in der Scheibe spiegelte und er im Grunde gar nichts aus dem Wageninneren sah. Es vergingen Monate, ehe er sie endlich einmal richtig zu Gesicht bekam, zusammen mit ihrem Mann. Im Winter war das, es war erst fünf Uhr, aber schon dunkel. Seit fast einer Stunde stand er da, seine Füße so kalt, dass er sie gar nicht mehr fühlte. Auch seine Finger waren längst steif gefroren, als endlich ein Wagen vor dem Grundstück hielt. Ein Mann und eine Frau stiegen aus, gingen nebeneinander auf das Haus zu. Der Mann hielt ihren Arm, und sie trug einen Pelzmantel.
    Sie beachtete ihn nicht, obwohl sie ihn sehen musste. Aber wahrscheinlich erkannte sie ihn nicht, Agnes sagte oft, man erkenne ihn nicht wieder. Schon gar nicht mit dem alten Damenrad, eine Plastiktüte am Lenker, in der seine Thermoskanne mit Kaffee und zwei Wurstbrote steckten, weil er um sechs von seinem Beobachtungsposten zum Dienst musste. Bis zum Kinn eingepackt in die dicke Winterjacke, die dringend mal in die Reinigung gemusst hätte. Seine Hose hätte auch eine Wäsche vertragen können, aber er hatte keine Waschmaschine. Vermutlich hielt Heike ihn für einen Penner. Sie war immer noch so schön, und es tat immer noch so entsetzlich weh. Nichts hatte sich verändert.
    In den nächsten zweieinhalb Jahren sah Merkel sie vor sich, wie sie in ihrem Pelzmantel am Arm ihres Mannes auf das prächtige Haus zuging. Wie das Licht hinter den Fenstern aufflammte. Und im Geist sah er auch, wie sie sich auszog, aufs Bett legte und ihr Mann auf sie.

    Dann starb sie ganz plötzlich, zusammen mit ihrem Mann.
    Merkel las die Todesanzeige zufällig in der Tageszeitung, die er sich inzwischen leistete, um sich wenigstens ein bisschen über das Weltgeschehen zu informieren, obwohl es ihn eigentlich nicht interessierte. Durch einen tragischen Verkehrsunfall mitten aus dem Leben gerissen, stand da. Heike und Friedmann Gersolek. Fast eine halbe Seite nahm die Anzeige ein. Eine endlose Latte von trauernden Hinterbliebenen waren aufgelistet. Ganz oben stand der Name seiner Tochter, Irene Brandes, dass sie seit einem Jahr verheiratet war, wusste er von Agnes.
    Die Beerdigung fand an einem Freitagnachmittag statt. Und natürlich ging er hin, musste hingehen, unbedingt dabei sein, mit eigenen Augen sehen, wie man sie unter die Erde brachte, damit er es glauben und vielleicht endlich ein bisschen Abstand gewinnen konnte. Er nahm sogar eigens frei für den Abend, weil er dachte, danach sei er ohnehin nicht mehr diensttauglich. Wegen eines Trauerfalls in der Familie, sagte er. Das war es doch auch!
    Heike mochte vor achtzehn Jahren die Scheidung eingereicht haben, aber sie war seine Frau gewesen. Daran hatte niemand etwas ändern können, kein Richter, auch kein Friedmann Gersolek. Jetzt war sie tot. Jetzt
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