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Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Titel: Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Autoren: Hammesfahr Petra
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gab, weil er sonst nicht einschlafen konnte.
    Sie konnte nur einschlafen, wenn sie ganz fest den Teddy in den Arm nahm, den Papa bei einer Tombola für sie gewonnen hatte. Es war ein großer Teddy mit hellblauem Fell und klugen Augen. Bis dahin hatte er keinen Namen gehabt, war nur Teddy gewesen. Nun nannte Irene ihn Heinrich, so hieß Papa, obwohl ihn alle immer nur Hein genannt hatten.
    Abends im Bett erzählte sie Heinrich von den Merkwürdigkeiten, die sie nicht verstand. Dass sie nie auf den Friedhof gingen, nie Blumen auf Papas Grab legten. Heinrich konnte das genauso gut erklären, wie Papa es gekonnt hätte.
    «Das ist ja viel zu weit weg», sagte er. «Wir sind doch umgezogen. Aber Onkel Kurt und Agnes bringen ihm sicher jeden Tag Blumen. Und Oma Seifert betet jeden Tag für ihn.»
    Irene konnte nämlich nicht selbst für ihn beten, das hatte ihr noch niemand beigebracht.
    Heinrich wusste auch, warum Irene tagsüber nicht mehr von Papa sprechen durfte. Ihre Mutter wollte kein Wort mehr über ihn hören. «Sie ist böse mit ihm», sagte Heinrich.

    «Weil er sich hat totschießen lassen. Er hätte eben viel besser aufpassen müssen.»
    Als sie die Wohnung ausräumten, stopfte ihre Mutter alle Fotos von Papa in einen Mülleimer. Zum Glück zerriss sie die Fotos vorher nicht. Irene fischte sie alle wieder aus dem Eimer, säuberte sie sorgfältig von verschimmelten Speiseresten und Zigarettenasche und versteckte sie gut. Es war sogar eins dabei, auf dem Papa noch ein kleiner Junge gewesen war. Hinten stand sein Name drauf und sein Geburtstag. Das hatte seine Mutter geschrieben, ehe sie gestorben war. Damit alle Leute wussten, wer Papa war und wann man ihm etwas zum Geburtstag schenken musste. Agnes hatte ihr das einmal erzählt.
    Und Irene besaß noch mehr, Erinnerungen. Einen Nachmittag auf einem Volksfest, eine Fahrt auf dem Autoscooter. Papa neben ihr, so groß und stark, das kleine Fahrzeug lässig mit einer Hand durch das dichteste Gewühl steuernd, den freien Arm um ihre Schultern. Damit hielt er sie fest, damit sie bei den Rempeleien und den Stößen nicht nach vorne geschleudert wurde und sich am Ende die Zähne ausschlug.
    Sechs Jahre alt war sie gewesen. Sie waren allein auf den Festplatz gegangen. Ihre Mutter hatte keine Lust auf einen Bummel zwischen Karussell und Buden mit Süßigkeiten gehabt, blieb lieber mit ihrer Schwester am Kaffeetisch sitzen und bat: «Geh du doch mal mit ihr, Hein.»
    Er fuhr auch mit ihr auf der Geisterbahn, wo Irene überhaupt keine Angst hatte, weil er doch neben ihr saß. Und bevor sie zurückkehrten in die gemütliche Kaffeerunde, kaufte er ihr noch ein Stück Kokosnuss. Das war die intensivste Erinnerung, in der er nicht nur groß und stark war, sondern magische Kräfte besaß. Sie biss sich an der NUSS einen Zahn aus. Der Zahn war zwar vorher schon locker gewesen, es tat trotzdem sehr weh, blutete auch ein bisschen. Und dann saß sie neben ihm auf der Couch im Wohnzimmer von Tante Karola, presste ihr Gesicht ganz fest gegen sein Hemd, und allein von seiner Wärme ging der Schmerz weg, und es hörte auf zu bluten.
    Daran dachte Irene oft während der Zeit, in der sie bei Tante Karola wohnten. Ihre Mutter wollte um keinen Preis der Welt weiter in einer Wohnung leben, in der ein Mensch kaltblütig ermordet worden war. Das sagte sie einmal, ein Mensch. Sie sagte nicht: Mein Mann oder Hein. Aber von ihm durfte ja gar nicht mehr gesprochen werden.
    Ihre Mutter fand damals rasch einen neuen Mann. Schon nach wenigen Monaten bei Tante Karola zogen sie in das riesige Haus zu Friedel. Friedel war Anwalt, ein lieber Kerl, gutmütig und geduldig. Er hatte viele Bücher und viel Geld, und geizig war er überhaupt nicht. Ihrer Mutter kaufte er sofort ein Auto und schöne Kleider. Auch Irene gab er etwas ab.
    Im ersten Jahr bekam sie jeden Sonntag einen Fünfer. Dafür hätte sie fünfzig Salino-Lakritze kaufen können, die mochte sie so gerne. Aber sie sparte all die Fünfer, wollte ihrem Papa dafür eines Tages eine Pyramide bauen lassen. In einem von Friedels Büchern war eine abgebildet. Und Friedel erklärte, in Pyramiden hätten die alten Ägypter ihre Pharaonen beerdigt, das seien Könige gewesen. Für Irene war Papa noch viel mehr gewesen als ein König. Ihn konnte niemand ersetzen.
    Friedel war ein Kumpel, ein Vater wurde er für Irene nie. Sie bekam seinen Namen, als er ihre Mutter heiratete. Und er hätte es wohl gerne gehört, wenn sie ihn Papa genannt hätte. Aber das
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