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Menu d'amour

Menu d'amour

Titel: Menu d'amour
Autoren: Nicolas Barreau
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den ich gar nicht kannte, reichte der Unglücklichen mein Taschentuch und drückte immer wieder mitfühlend ihre Hand.
    »Ach, Henri«, sagte sie schließlich und sah mich aus ihren verweinten Augen an, die vor Kummer die dunkelste Schattierung eines Aquamarins angenommen hatten. »Weißt du … du bist wirklich nett.«
    »Ach, Valérie«, sagte ich leise. Ich wusste nicht, was dieses nett bedeutete, ob es wirklich nur nett meinte oder doch so viel mehr als nett, aber es war auch nicht wichtig, denn mein Herz quoll über vor Liebe.
    Draußen war es dunkel geworden, und vielleicht hätte dies der alles entscheidende Moment sein können, doch ich ließ ihn verstreichen, so wie man oft im Leben eine Gelegenheit verstreichen lässt, ohne es sofort zu bemerken.
    Die Intimität jenes Nachmittags, die in erster Linie einem toten Cockerspaniel geschuldet war, sollte sich nur noch einmal wiederholen. Nach einem viel zu kalten Frühling, der sich mit einem letzten heftigen Regenschauer verabschiedet hatte, war es mit einem Mal doch noch Sommer geworden in Paris. An einem der letzten Semestertage saß ich auf einer Bank im Jardin du Luxembourg, und neben mir saß Valérie in einem ärmellosen blauen Kleid und las mir aus einem Buch vor. Sie hatte es bei den Bouquinisten entdeckt. Es war Alain-Fourniers Der große Meaulnes, und Valérie war hingerissen von der Schönheit der Sprache und der Geschichte des ungestümen Augustin, der sich mit seinem Kameraden aufmacht, um das »verlorene Land« zu finden, jenen geheimnisvollen Ort, an dem Augustin unter seltsamen Umständen der bezaubernden Yvonne de Galais begegnet ist, und den die beiden Freunde doch auf keiner Karte finden.
    »Es ist mein absolutes Lieblingsbuch«, versicherte sie mir, und ihre Augen waren wie zwei Teiche, in denen sich der Himmel spiegelt. »Du musst es unbedingt lesen«, sagte sie, als wir uns verabschiedeten, und drückte mir in einer spontanen Geste das Buch in die Hand. »Versprich mir das.«
    Ich versprach es, und dann zog ich sie plötzlich in meine Arme. Ich vergrub mein Gesicht in ihr duftendes Haar und hielt sie ein wenig zu lang und ein wenig zu fest, und als wir uns verwirrt voneinander lösten und sie mich mit großen Augen ansah, sagte ich noch einmal: »Ich verspreche es.« Und es klang so, als ob ich etwas ganz anderes versprechen würde.
    Wenige Tage später begannen die Semesterferien und Valérie Castel fuhr mit ihren Eltern an die italienische Riviera. Ich las das Buch, verschlang es in zwei Tagen und war fest entschlossen, es besser zu machen als der unglückliche Meaulnes.

7
    Schon als sie aus dem Zug stieg, hatte ich es gespürt. Etwas hatte sich verändert. Die Befangenheit, mit der sie mich begrüßte und den kleinen Blumenstrauß entgegennahm, den ich ihr gekauft hatte, passte ebenso wenig zu Valérie Castel wie dieses lächerliche Halstuch, das sie sich umgebunden hatte. Ich nahm die große lederne Reisetasche und ging mit klopfendem Herzen neben ihr den Bahnsteig der Gare de Lyon entlang, jenes Bahnhofs, in dem alle Züge aus dem Süden ankommen. Die Sonne spiegelte sich auf den Gleisen, die Luft war immer noch sommerlich warm, und doch war meine übergroße Freude, Valérie endlich, endlich nach drei langen Monaten wiederzusehen, einer eigenartigen Angst gewichen.
    »Stell dir vor, dein Lieblingsbuch ist übrigens auch mein Lieblingsbuch«, sagte ich und lachte, um die Verlegenheit zu überspielen, die sich zwischen uns gesenkt hatte.
    »Tja. Na so was«, entgegnete sie unbestimmt. »Danke auch für die schönen Blumen.«
    Ihre Haare waren heller geworden und über ihre Haut hatte sich eine zarte sommerliche Bräune gelegt.
    »War’s schön an der Riviera?«, fragte ich. »Du siehst toll aus.«
    Sie nickte. Dann blieb sie plötzlich stehen. »Wollen wir etwas trinken? Ich hab fürchterlichen Durst.«
    »Klar.« Gemeinsam stiegen wir die Treppe zum Train Bleu hinauf. Das alte Bahnhofsrestaurant schwebte mit seinen gemalten Palmen und den südlichen Küstenbildern wie ein Versprechen über den Gleisen.
    Valérie setzte sich in eine Nische am Fenster. Hinter ihr an der Wand ragte, umrankt von goldenen Jugendstilblüten, eine Dame der Jahrhundertwende auf, die ein langes weißes Kleid trug und eine runde Hutschachtel in den Händen hielt. Als der Kellner uns die Getränke gebracht hatte, umklammerte Valérie ihr Glas mit der Zitronenlimonade so fest, dass mir ganz schlecht wurde.
    »Valérie«, sagte ich. »Was ist los?«
    Sie sah
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