Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Menschenskinder

Menschenskinder

Titel: Menschenskinder
Autoren: Evelyn Sanders
Vom Netzwerk:
liegenden Bereich ergeben; wo der eine fehlende Zentimeter geblieben war, hatte ich noch nicht herausgekriegt, wahrscheinlich dort, wo man ihn auch nicht braucht!
    »Weshalb hast du mir nicht gesagt, dass du dich in unsere Gemächer zurückziehst? Und wieso ist die rote Zahnbürste nass?‹ Ich hatte gerade danach gegriffen und festgestellt, dass sie tropfte. »Dir gehört doch die grüne!«
    »Tatsächlich? Ich war mir da nicht sicher. Tut mir Leid.«
    Mir auch! Ich war ja bereit gewesen, mein Leben mit ihm zu teilen, mein Bett und im Notfall auch meine letzte Zigarette, nicht aber die Zahnbürste!!! Zu Hause ist das ja kein Problem, Herr Alibert hat dafür gesorgt, dass jeder von uns seine eigenen Fächer im Spiegelschrank hat, und dort, wo Rasierschaum und Aftershave stehen, findet Rolf auch auf Anhieb seine Zahnbürste. Für unterwegs werde ich ihm wohl doch wieder einen mit Wäschetinte beschrifteten Leukoplaststreifen auf den Stiel kleben müssen!
    Also gut, es wird auch mal ohne gehen, Mundausspülen muss heute genügen, ist vielleicht sogar gesünder, erst unlängst hatte ich in der Zeitung von einem Fünfundneunzigjährigen gelesen, der noch alle Zähne hat, in seinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal beim Zahnarzt gewesen war und dem Reporter eine noch in brüchiges Seidenpapier gewickelte und mit blauem Bändchen verzierte Zahnbürste gezeigt haben soll, die ihm seine Frau zur Hochzeit geschenkt hatte. So weit ich mich erinnere, wohnt er irgendwo auf der Schwäbischen Alb. Wahrscheinlich wäscht er sich auch mit Brunnenwasser.
    Weshalb Rolf sich ohne mich abgeseilt hatte, habe ich nicht mehr erfahren, denn als ich ins Zimmer zurückkam, schlief er schon. Ich nahm ihm die Preisliste aus der Hand, stellte fest, dass ein Minifläschchen Whisky hier genauso viel kostete wie im Bayerischen Hof in München, knipste die Nachttischlampe aus und kuschelte mich in mein Bett. Durch das geöffnete Fenster kamen Töne herein, die entfernt an Musik erinnerten; anscheinend war man jetzt, nachdem die Alten das Feld geräumt hatten, zu den moderneren Klängen übergegangen. Viel habe ich dafür nicht übrig, doch einen Vorteil hat die moderne Musik: Kein Mensch kann sie pfeifen!
    Um neun Uhr wollten wir uns alle zum Frühstück treffen, um halb zehn waren wir die Ersten, die Letzten kamen, nachdem der allgemeine Aufbruch schon eingesetzt hatte. Fast alle Hochzeitsgäste hatten eine stundenlange Autofahrt vor sich, und auch Sascha, der ursprünglich einen Erholungstag bei uns eingeplant hatte, musste sich in das Unabänderliche fügen. Noch etwas ungeübt als neugebackener Stiefvater schulpflichtiger Töchter hatte er nicht daran gedacht, dass der kommende Tag ein ganz gewöhnlicher Montag war, zwei gleichzeitig erkrankte Schwestern jedoch wenig glaubhaft sein würden.
    »Der Mensch wird frei geboren und dann eingeschult!«, hatte Sunny gemault, als Nastassja ihr eine nachträgliche Entschuldigung für versäumten Unterricht rundweg verweigerte, und Michelle hatte sie noch übertrumpft: »Ich kann morgen ruhig fehlen, weil wir bloß Sport haben, Geographie und zwei Stunden Englisch. Grammatik natürlich, aber die kann Sascha viel besser erklären als der blöde Heiermann.«
    »Heißt der wirklich so?«, hatte ich wissen wollen. »Nein!« Grinsend hatte sie mich angesehen. »Sein richtiger Name ist Klausen, aber weil er ein falscher Fünfziger hoch zehn ist, heißt er in der ganzen Schule bloß noch Heiermann. So wird bei uns nämlich ein Fünfmarkstück genannt«, hatte sie erläuternd hinzugefügt, immer noch unsicher, wie sie mich einzuschätzen hatte. Ihrer Vorstellung von der am Herd stehenden, Semmelknödel rollenden Großmutter hatte ich schon bei unserer ersten Begegnung nicht entsprochen, denn sie hatte mich am voll gepackten Schreibtisch vor dem Computer sitzend vorgefunden. Nachdem Sascha ihr erzählt hatte, dass ich Bücher schreibe, war ich für kurze Zeit sogar in ihrer Achtung gestiegen; nicht etwa wegen der Tatsache als solcher, sondern weil ich dann ja berühmt sein musste und vor allen Dingen reich. Dass beides nicht der Fall ist, nahm sie mir nicht ab, Astrid Lindgren und Enid Blyton täten ja auch nichts anderes, und die würde jedes Kind kennen.
    Inzwischen ist eine ganze Menge Zeit vergangen, aus dem netten, lustigen Mädchen ist ein Teenager geworden, und zwar einer der nicht mal mehr erträglichen Sorte, doch da sich ihre Besuche immer nur auf zwei oder drei Tage beschränken, üben wir uns in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher