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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte
Autoren: Helmut Schmidt
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demokratischen Gesellschaft und der Freiheit des einzelnen, konnte kein anständiger Beobachter in Zweifel ziehen – allerdings haben einige innenpolitische Gegner immer wieder versucht, seine Glaubwürdigkeit herabzusetzen. Wehners Temperament und zeitweilige Schroffheit boten dafür bisweilen Anlässe; vor allem auf der Rechten mißtraute man seinem beharrlichen Eintreten für einen Ausgleich mit der Sowjetunion und seinem stetigen Engagement für Schritte in Richtung auf eine dereinstige Vereinigung der Deutschen unter einem gemeinsamen Dach. Konrad Adenauer hatte ihm Respekt entgegengebracht; ich hingegen – trotz einiger heftiger Auseinandersetzungen – liebte diesen Mann; er erschien mir als Garant einer lebenskräftigen Synthese aus einer sozialen, demokratischen Innenpolitik und einer auf den engen Zusammenhalt mit dem Westen gegründeten Ostpolitik. Als ich 1969 Verteidigungsminister werden sollte, habe ich zur Bedingung gemacht, daß Wehner – bis dahin Bundesminister – an meiner Stelle den Vorsitz der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion übernahm. Ich wollte sicher sein, den Rücken frei zu haben. Ich habe mich in dieser Erwartung nicht getäuscht.
    Herbert Wehner konnte notfalls mit dem Holzhammer arbeiten, aber zugleich besaß er ein hohes Einfühlungsvermögen für
andere, besonders für Menschen in Not. Er soll einmal über Rußland gesagt haben, er liebe dieses Land, weil es soviel erleiden mußte. Er mag 1969 und noch 1974, zur Zeit meines ersten Moskauer Besuches als Bundeskanzler, der sowjetischen Führung als Abtrünniger suspekt gewesen sein; wahrscheinlich hat man in Moskau wie in Ost-Berlin erst später seine Bedeutung für unsere Ostpolitik verstanden. Ich hingegen wußte: Wehners ostpolitische Vorstellungen waren schon klar gewesen, bevor Willy Brandt die seinigen entwickelte und bevor dessen damaliger Berliner Mitarbeiter Egon Bahr in der ersten Hälfte der sechziger Jahre vom »Wandel durch Annäherung« sprach. Ich habe in der ganzen Zeit meiner Kanzlerschaft meine Politik jede Woche mit Herbert Wehner abgestimmt, besonders intensiv meine Ostpolitik – und ich habe mich immer auf ihn verlassen können.
    Russisch-sowjetische Kontinuität
    Meine Vorstellungen von der Sowjetunion in den sechziger und siebziger Jahren unterscheiden sich nur in aktuellen Details, nicht aber grundsätzlich von meinem heutigen Urteil. Mir sind Außenpolitik und Gesamtstrategie der Sowjetunion in vielerlei Hinsicht immer als eine geradlinige Fortsetzung und Ausfächerung der Politik des alten Rußland vom 16. über das 17. bis zum 18. und 19. Jahrhundert erschienen. Grob vereinfacht gesagt, für mich waren und sind drei Viertel der Moskauer Gesamtstrategie russischtraditionell, ein Viertel kommunistisch.
    Lenin – und ebenso Stalin – haben Iwan IV., den »Schrecklichen«, vermutlich zu Recht als den eigentlichen Begründer des absolutistisch-zentralistisch regierten großrussischen Staates betrachtet. Iwan IV., 1530 geboren, nahm 1547 den Zarentitel an und führte den ersten russischen Eroberungskrieg über die alten Grenzen des Kiewer Reichs hinaus, der mit dem Sieg über die tatarischen Wolgafürstentümer Kazan und Astrachan endete. Damit begann die Geschichte der Reichserweiterungen, die eine weitgehende Russifizierung der fremden Völkerschaften mit sich brachte,
auch Zwangsumsiedlungen, etwa um Nowgorod, Twer oder Pskow (Pleskau) fest unter Botmäßigkeit zu bringen. Das brutale Instrument der Zwangsumsiedlung hat nicht Stalin erfunden; Peter I. und Katharina II. haben vorher das gleiche getan. Die russische Expansion richtete sich auf das Baltikum, auf die Ostsee also, dann auf Polen, die Schwarzmeerküste, schließlich den Balkan; auch Konstantinopel, der Bosporus und die Dardanellen lagen oft im Blickfeld. Zugleich hatte man den Kaukasus im Auge, die untere Wolga, das Kaspische Meer, Taschkent und Samarkand, Turkestan und Afghanistan. Am Horizont lockten die unermeßlichen Weiten des nördlichen Asiens bis an den Pazifik und über die Beringstraße hinaus Alaska, dann mongolische, chinesische, schließlich japanische und ganz zum Schluß auch deutsche Gebiete. Neuerdings sind politische Stützpunkte im Nahen Osten, in Afrika und Lateinamerika hinzugekommen.
    Ob unter Iwan IV., Peter I. oder Katharina II., unter Stalin, Chruschtschow oder Breschnew: trotz mancher Rückschläge ist der russische Drang zur Expansion nie wirklich erloschen. Ihm liegt ein moskauzentrischer Messianismus zugrunde,
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