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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte
Autoren: Helmut Schmidt
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welcher der russischen Staatsidee inhärent geblieben ist. Als Konstantinopel 1453 von den Türken erobert wurde und damit das oströmische Zentrum der Christenheit verlorenging, erklärte sich Moskau zum »Dritten Rom« – »… und ein viertes Rom wird es nicht geben«. Die Heilsgewißheit erschien in anderer Form in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als moskauzentrischer Panslawismus und erneut im 20. Jahrhundert als weltrevolutionärer moskauzentrischer Kommunismus.
    Entweder die Wendung zum humanistischen und liberalen Geist Westeuropas oder aber eine bewußte Hingabe an den russischen Messianismus – mit all seinen Gefahren: so ließe sich die Alternative Rußlands im 19. Jahrhundert umschreiben. In der Literatur vertritt Turgenjew die erste, Dostojewski die zweite, die Hauptströmung russischen Denkens – obgleich die Obrigkeit ihn erst zum Tode verurteilte und dann nach Sibirien verbannte.
    Vor einer vergleichbaren Frage stehen auch die heutigen Dissidenten in der Sowjetunion. Aber alle Russen, die sich angesichts
dieser Frage für die Freiheit der Person und die Unverletzlichkeit ihrer Würde, für die Herrschaft des Rechts und für die offene Gesellschaft entschieden haben, welche die Unterordnung des einzelnen unter einen kollektiven Willen ablehnen und seine Grundrechte höher bewerten als den Anspruch des Staates oder seiner Herrscher – alle diese Russen waren bisher immer eine Minderheit, eine politisch zumeist bedeutungslose Randgruppe. Es erscheint mir fraglich, ob sich dies unter Gorbatschow wesentlich ändern kann – sosehr ich es hoffen möchte.
    Die europäische Aufklärung, die Ideen des Rechtsstaates und der Demokratie haben die politische Entwicklung Rußlands nur wenig beeinflußt. Peter der Große hat – ähnlich wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Meiji-Tenno in Japan – sein Land zielstrebig der westeuropäischen Wissenschaft und Technik geöffnet; aber er hat – ähnlich wie Meiji-Tenno – den Geist seines Volkes nicht entscheidend verändert; er wollte sich des westlichen Beispiels vielmehr bedienen, um den damaligen europäischen Großmächten ebenbürtig zu werden.
    Der russisch-sowjetische Expansionsdrang läßt sich mit dem gleichen Recht als Imperialismus begreifen, wie man das im Falle anderer Weltreiche getan hat, ob es die Imperien der Portugiesen, der Spanier oder der Engländer, das antike Rom oder die USA gewesen sind, deren Errichtung weitestgehend auf unfriedlicher Landnahme beruhte. Wenn im Westen vom sowjetischen Imperialismus die Rede ist, so ist die moralische Verurteilung unüberhörbar. Zur Zeit der Entstehung früherer Weltreiche hat es aber eine solche moralische Verurteilung kaum gegeben; die Unterwerfung fremder Völker und die Auslöschung ihrer Staaten wurden weniger als Schuld der Eroberer begriffen, sondern vielmehr als unabwendbares Schicksal. Als meine Generation in der Schule von Alexander dem Großen, von Caesar, von Karl dem Großen oder von Napoleon hörte, kam es den Lehrern nicht in den Sinn, die legendären Eroberer als Verbrecher gegen die Menschlichkeit darzustellen; im Gegenteil: sie wurden eher heroisiert. Das gleiche galt für die Eroberung des ursprünglich indianisch besiedelten Nordamerika durch die Weißen. Und niemand wäre auf den Gedanken gekom men, den Athener Staatsmann Perikles oder den Philosophen-Kaiser Marcus Aurelius dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß sie an der Spitze von Staaten standen, die ohne Eroberungen und ohne Sklaverei gar nicht denkbar sind. Die philosophische, sittliche und rechtliche Verurteilung der Eroberung fremder Staaten und ihrer Völker ist relativ jungen Datums. Die kurzlebigen Weltreichträume der Japaner, Mussolinis und Hitlers wären anderthalb Jahrhunderte zuvor – wenn mit ihnen nicht unvorstellbare Verbrechen verbunden gewesen wären – durchaus nicht so entschieden verurteilt worden, wie das unter den Bedingungen der dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts der Fall sein mußte. Seither gelten unverhüllte globale Herrschaftsansprüche in der ganzen Welt als unerlaubt, ja als verbrecherisch.

    Die russischen Kommunisten haben sich – nach dem Bruch des Hitler-Stalin-Paktes – diesem Denken angeschlossen. Aber sie scheinen außerstande, ihre eigenen territorialen Eroberungen mit den gleichen Maßstäben zu messen. Moskau legitimierte seinen Expansionismus zeitweise geschichtsphilosophisch mit den Lehren von der kommunistischen Weltrevolution und dem
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