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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte
Autoren: Helmut Schmidt
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Öffnung des Landes nach außen um eine qualitativ ähnliche Kategorie wie bei den Reformen des Meiji-Tenno nach
1868. Freilich stehen China heute – anders als dem vollständig abgeschlossenen Japan nach den zweieinhalb Jahrhunderten der To-kugawazeit – vielfältige unternehmerische und außenhändlerische Erfahrungen zur Verfügung; die vielen Kaufleute entlang der Küsten von Tianjin über Shanghai bis Guangzhou sind ja erst im Laufe der fünfziger Jahre enteignet worden; in Hongkong stehen sie sogar in voller Blüte. Auch kann China sich auf die Loyalität vieler Tausende im Ausland wissenschaftlich ausgebildeter Menschen verlassen, die zurückkehren und mithelfen wollen.
    Das ökonomische Experiment Gorbatschows setzt auf sehr viel höherer Ebene an, sowohl was das technische Können als auch was den Lebensstandard der Massen betrifft. Aber Gorbatschow kann es innenpolitisch nicht wagen, den Rüstungsaufwand in den vierten Rang zu verweisen. Alle unternehmerischen Traditionen sind in Rußland schon seit über sechzig Jahren zerbrochen; die Enkel wissen nicht mehr aus eigener Anschauung, wie ein Unternehmen geführt wird. Frei am Markt gebildete Preise, die Akkumulation von Gewinnen, deren Investition in neue Technik und die Steigerung der Kapazität des eigenen Unternehmens: dies alles von der jeweiligen Unternehmensleitung in eigener Verantwortung entscheiden zu lassen, wäre eine unerhörte Neuerung; sie einzuführen stößt bereits auf vielfältige Trägheiten und Widerstände.
    Es liegt im Interesse Europas, daß die sowjetischen Reformen Erfolg haben. Aber die Europäer können dabei nicht mehr Hilfe leisten, als die Sowjets zu bezahlen bereit sind; denn wir können der übergroßen Militärmacht, die sich in unserer unmittelbaren Nähe etabliert hat, nicht finanziell den Rücken freihalten, damit sie ihr bisheriges Rüstungstempo fortsetzt. Ganz anders aber wäre unsere Lage, wenn es wirklich zum vertraglich gesicherten Abbau der Rüstung käme: in diesem Falle hätte Westeuropa allen Grund, ökonomischen Beistand zu leisten. Denn natürlich würde eine ökonomische Emanzipation der Sowjetunion auch Polen, der DDR, Ungarn und der Tschechoslowakei zugute kommen und die ökonomische Bevormundung der Staaten des Warschauer Paktes durch Moskau verringern. Zwangsläufig würden sich auch die bisher – an den Maßstäben Westeuropas gemessenen – geringfügigen
Wirtschaftsbeziehungen zwischen West- und Osteuropa allmählich verdichten, so daß eine wirtschaftliche Zusammenarbeit entstehen könnte, die diesen Namen verdient. Die Menschen in Ost und West hätten davon Vorteile, und es bestünden gute Chancen, daß in Osteuropa nicht nur der Lebensstandard erhöht, sondern auch der persönliche Spielraum und die Freiheit des einzelnen erweitert werden könnten. Alle Europäer haben also gute Gründe, auf den doppelten Erfolg der internationalen Rüstungsbegrenzungsverhandlungen und der ökonomischen Reform in der Sowjetunion zu hoffen und jedenfalls zum Erfolg der ersteren nach Kräften beizutragen.
    Dies sind Chancen für Europa, zugleich aber auch Risiken. So könnte Europa durch Abstinenz oder auch durch kurzsichtiges Beharren einzelner europäischer Staaten auf dem gegenwärtigen Zustand mitverantwortlich werden für ein mögliches Scheitern der Abrüstungsverhandlungen. Im Falle erheblicher abrüstungspolitischer Erfolge besteht zum einen das Risiko, daß über die Köpfe der Europäer hinweg rein bilaterale Entscheidungen zustande kommen, die zugleich, wenn auch nicht notwendigerweise, die seit vierzig Jahren bestehende Teilung Europas in eine amerikanische und eine sowjetische Einflußsphäre für die weitere Zukunft festigen. Zum anderen bleibt das Risiko, daß eine im Laufe der Zeit ökonomisch stärker werdende Sowjetunion sich eines Tages erneut ein Rüstungsübergewicht zu verschaffen sucht.
    Deshalb sollten die Staaten Westeuropas ihre Interessen bündeln, um gemeinsam ein politisch, militärisch und wirtschaftlich handlungsfähiges Subjekt der Weltpolitik zu werden. Damit ist nicht das gegenwärtig utopisch erscheinende Ziel der Schaffung der Vereinigten Staaten von (West)Europa gemeint; wohl aber jenes enge Zusammenwirken, wie es 1946 Churchill, 1962 de Gaulle und 1963 Kennedy vor Augen hatten. Churchills Vision war verfrüht; sie scheiterte, weil er sein eigenes Land nicht einbeziehen wollte. De Gaulles Vision scheiterte am deutschen Bundestag, ehe sie möglicherweise an der Sorge seiner
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