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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Autoren: Barry Hughart
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waren so schön, daß es dem General schwerfiel, sich von ihrem Anblick loszureißen. Doch die Pflicht rief, und so folgte er dem Weg, der sich sieben Terrassen hinaufwand, wo die Blätter der Bäume aus Edelsteinen waren, die melodisch erklangen, wenn der sanfte Windhauch sie streifte, wo Vögel mit leuchtenden Federn mit himmlischen Stimmen von den Fünf Tugenden und Erhabenen Gesetzen sangen. Der Weg führte an den üppigen Obstgärten vorbei, wo unter Aufsicht von Königinmutter Wang die Pfirsiche der Unsterblichkeit wuchsen. Als der General die letzte Wegbiegung an den Obstgärten hinter sich ließ, stand er direkt vor dem Palast des Erhabenen Himmelskaisers.
    Lakaien erwarteten den General. Sie geleiteten ihn in die Audienzhalle, und nach drei Verbeugungen und neun Kotaus durfte er sich erheben und dem Thron nähern. Dort saß der Erhabene Jadekaiser mit gefalteten Händen und hatte das Kaiserliche Buch der Etikette auf dem Schoß. Er trug einen flachen, brettähnlichen Hut, von dem dreizehn rote Schnüre mit farbigen Perlen hingen. Auf seinem schwarzen Seidengewand ringelten sich rote und gelbe Drachen. Der General verneigte sich und überreichte demütig seinen Plan für die Mauer.
    Hinter dem Thron stand T'ien-kou, der Himmelshund, der mit seinen Zähnen Berge zermalmt hatte, und neben ihm Ehr-lang, ohne Zweifel der größte aller Krieger, denn er kämpfte mit dem mächtigen Steinaffen und zwang ihn, Ruhe zu geben. (Der Affe symbolisiert den Verstand.) Die beiden Leibwächter blickten den General finster an, und er senkte hastig die Augen. Da bemerkte er auf der linken Armlehne des Throns das Symbol des kaiserlichen Vorgängers, des Himmlischen Meisters des Ersten Ursprungs, und auf der rechten Armlehne das Symbol des kaiserlichen Nachfolgers, des Himmlischen Meisters der Jademorgendämmerung am Goldenen Tor. Den General überwältigte das schwindelerregende Gefühl der Zeitlosigkeit, in der ihm jeder Vergleich und jedes Maß abhanden kam. Ihm wurde übel. Er fürchtete, sich durch Erbrechen zu entehren, doch im letzten Augenblick sah er, daß man ihm seinen Plan, ordentlich zusammengerollt und gebunden, vor die gesenkten Augen hielt. Er nahm ihn entgegen, fiel auf die Knie und erwartete göttliche Kritik oder göttliches Lob. Aber nichts dergleichen geschah. Der Erhabene Jadekaiser schwieg und deutete durch ein Zeichen das Ende der Audienz an. Der General kroch rückwärts und berührte immer wieder mit der Stirn den Boden. An der Tür packten ihn die Lakaien, führten ihn nach draußen und über eine endlose Wiese. Dann hoben sie ihn hoch und warfen ihn in den Großen Fluß der Sterne. Der General berichtete, daß er sich seltsamerweise überhaupt nicht gefürchtet habe. Im Himmel war gerade Regenzeit, und Milliarden leuchtender Sterne tanzten über tosenden Wogen, die wie eine Billion Tiger brüllten. Aber der General fiel sanft in das Wasser, sank tiefer und tiefer, erreichte schließlich den Grund und glitt hindurch.
    Das Glitzern des Großen Flusses entschwand schnell in der Ferne, während er kopfüber auf die Erde zustürzte. Er landete direkt in seinem Bett; und in diesem Augenblick trat sein Diener ein, um ihn zum Frühstück zu wecken.
    Es dauerte einige Zeit, bis er genug Mut aufbrachte, um seinen Plan zu öffnen. Als er es schließlich tat, entdeckte er, daß der Erhabene Himmelskaiser - oder jemand anderes - die Mauer einhundertzweiundzwanzig Meilen nach Süden versetzt hatte. Damit stand sie mitten im Tal Cho, wo sie keinerlei praktischen Nutzen hatte. Was sollte er tun? Er konnte sich unmöglich der Weisung des Himmels widersetzen. Also befahl er seinen Leuten, eine Mauer zu bauen, die nirgendwo hinführte und mit nichts verbunden war. Deshalb wurde der General verhaftet, des Hochverrats angeklagt und vor den Kaiser von China gebracht. Als er seine Geschichte erzählte, ließ man die Anklage fallen und verurteilte statt dessen den General wegen Trunkenheit im Dienst zum Tode. In seiner Verzweiflung erfand der General eine der hübschesten Entschuldigungen der Geschichte. Die Mauer, so erklärte er, sei an der richtigen Stelle gebaut worden, doch eines Nachts habe sich ein Drache dagegen gelehnt, sei eingeschlafen und am nächsten Morgen habe man die Mauer an ihrem jetzigen absurden Platz entdeckt. Das mächtige Tier hatte sie im Schlaf durch sein Gewicht dort hingeschoben. Die Geschichte vom »Drachenkissen« verbreitete sich wie ein Lauffeuer am kaiserlichen Hof, wo der General geschickte
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