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Meineid

Meineid

Titel: Meineid
Autoren: Petra Hammesfahr
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kurz schneiden lassen. Danach sah Greta aus, als hätte sie Läuse. Ihre Haare mussten eine bestimmte Länge haben, damit sie wenigstens vom Gewicht unten gehalten wurden. Auch ihre Brille hasste Greta. Und Tess fand sie schön, weil sie stark genug war, um als Mikroskop eingesetzt zu werden. Tess borgte sich die Brille immer dann, wenn sie wieder einmal früher fertig waren als ihre Mitschüler und ihr langweilig wurde. Sie betrachtete ausgiebig die Holzfasern in den Kratzern auf der Tischplatte und stellte fest:
    «Die sind dick wie Balken.»
    Und Greta war nett, weil sie sich nicht so zickig anstellte wie Bruder Joachim, der seine Brille nicht herausrückte, wenn Tess damit spielen wollte. Außerdem war Greta toll, weil sie nicht lamentierte, wenn sie wie blind neben Tess saß. Greta sagte einmal, es sei ihr anfangs schwer gefallen, zu glauben, dass es Tess ernst war mit dem, was sie sagte. Aber es kam ein Zeitpunkt, da war sie überzeugt, dass Tess es mit ihren Komplimenten ehrlich meinte, wenn sie es auch sonst mit der Wahrheit nicht genau nahm. Es war damals noch nicht so, dass Tess in böser Absicht Lügen verbreitete. Sie erzählte nur Geschichten, schauerliche, wilde Geschichten. Für sie war das die Würze im Alltag. Und mit der Zeit würzte sie eben stärker. Tess hat sich vermutlich nie bewusst gemacht, was andere dabei empfanden, und nie darüber nachgedacht, dass eines Tages ein Punkt erreicht sein könnte, an dem ein Mensch verzweifelt und sich weigert, zu schlucken, was sie servierte. * Da war eine Episode, mit der sich deutlich machen lässt, was ich meine. Greta hat mir oft davon erzählt. Es war in der dritten Grundschulklasse, Religionsunterricht in der Vorweihnachtszeit. Auf jedem Tisch stand ein kleines Gesteck. Die Wände waren mit Zeichnungen geschmückt, Tannenbäume mit bunten Kugeln und gelben Kringeln. Die Lehrerin hatte sich viel Mühe gegeben, ihnen den Begriff Advent nahe zu bringen. Warten, sich besinnen, die kleinen Flammen der Hoffnung.
    «Wenn ein Lichtlein brennt, sangen sie zu Beginn der Stunde. Die Lehrerin ging vor der Tafel auf und ab und erzählte von armen Kindern in anderen Ländern, die nicht zur Schule gehen durften, nicht einmal jeden Tag satt wurden. Dann kam sie auf ihre Schäflein zu sprechen, die genug von allem hatten und immer nur noch größere Ansprüche stellten. Anschließend verlangte sie, dass alle ihre Wünsche für das Weihnachtsfest in die Hefte schrieben. Tess hatte mit gebanntem Gesichtsausdruck an den Lippen der Lehrerin gehangen. Ihre Augen waren feucht geworden von all dem Elend, das vor ihnen ausgebreitet wurde. Als die Lehrerin schwieg, griff Tess zum Stift und schrieb zwei Sätze in ihr Heft. Greta war etwas schneller fertig als sie. So kam sie dazu, einen Blick auf die Herzenswünsche ihrer Freundin zu werfen.
    «Ich wünsche mir, dass mein Vati mich genauso lieb hat wie meinen Bruder Joachim. Und ich wünsche mir, dass mein Vati mich nicht mehr so feste haut.»
    Im ersten Moment verschlug es Greta die Sprache. Was Tess sich tatsächlich wünschte, hatte sie ihr ein paar Tage vorher gezeigt; ein Wunschzettel wie die Bestellung eines Spielwarenladens. Und gut die Hälfte davon, das wusste Greta, bekam Tess garantiert. Greta kannte die Familie Damner zu dem Zeitpunkt schon sehr gut, sie war oft genug bei ihnen. In der Wohnung ihrer Eltern gab es zum Spielen nur ihr kleines Zimmer, in dem gerade Platz war für ein Bett, den Schrank und einen Schreibtisch. Bei Damners gab es einen Schuppen, den Hof und die Werkstatt. Bei schlechtem Wetter stand ihnen das gesamte Haus zur Verfügung. Es wurden auch keine Einwände erhoben, wenn sie sich mit den Puppenmöbeln im elterlichen Schlafzimmer ausbreiteten. Tess war das Nesthäkchen, wurde gehätschelt und gehütet wie ein Augapfel. Herr und Frau Damner waren liebe, einfache und freundliche Menschen, die niemandem etwas zuleide taten. Sie mühten sich redlich ab, den Lebensunterhalt mit ihrem kleinen Laden in Ostheim zu verdienen, und konnten schon damals gegen die Konkurrenz der großen Warenhäuser nicht viel ausrichten. Sie verkauften und reparierten Waschmaschinen, Fahrräder und Radios. Ihre Mutter verkaufte, ihr Vater reparierte. Und er verwöhnte Tess nach Strich und Faden, soweit seine bescheidenen Mittel es ihm erlaubten. Greta hatte es oft genug erlebt. Ebenso oft hatte Greta erlebt, dass Joachim hin und wieder eine Ohrfeige bekam, trotz seines Alters. Er war zehn Jahre älter als Tess und machte zu
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