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Meineid

Meineid

Titel: Meineid
Autoren: Petra Hammesfahr
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um tolle Urlaubsreisen ging. Aber sie hatten die guten Noten und die aufregenden Träume. Sie wollten beide raus aus der Enge des Kleinbürgertums, wollten die große, weite Welt erleben. Es hatte jedoch auch während der Schulzeit schon gravierende Unterschiede gegeben. Gretas Vater stand bei Ford am Fließband. Er kam aus Italien, hatte dort eine große Familie, viele Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, Vettern, Kusinen, Neffen, Nichten und seine Mutter nicht zu vergessen. Und Gretas Vater wollte, dass es allen gut ging. Da war es im eigenen Haushalt oft knapp. Üppig war es bei Tess auch nicht, doch ihr Vater war ein selbständiger Geschäftsmann, der seiner Familie sogar ein altes, aber eigenes Haus bieten konnte. Greta war immer der festen Überzeugung, sie habe als Kind nichts vorzuweisen gehabt. Ihr Vater hatte sich Söhne gewünscht, viele Söhne, und dann musste er sich mit einer Tochter begnügen. Sie musste sich hundertmal in der Woche anhören, dass ein Mädchen nur die Hälfte wert sei und deshalb die doppelte Leistung bringen müsse. Tess wurde nie gezwungen, einen Aufsatz zweimal zu schreiben, wenn die erste Fassung nicht brillant war. Greta sah sich bis weit in die Pubertät als ein dürres, unscheinbares Ding mit einer Brille, hinter der die Augen wie Stecknadelköpfe erschienen, mit schiefen, zu großen und zu allem Überfluss auch noch vorstehenden Zähnen. Gegen die stark gekrausten Haare konnte auch der stärkste Festiger nichts ausrichten. Tess war schon als Kind ausnehmend hübsch. Als Frau war sie eine Schönheit. Ein makelloses Gesicht, perfekt geschnitten, hohe Wangenknochen, gerade Nase, üppige Lippen, grüne Augen. Das alles umrahmt von leicht gelocktem, rotem Haar, dieser warme Rotton, der in der Sonne Funken sprühte. Vom ersten Schultag an waren sie unzertrennlich. Vom zweiten, um genau zu sein. Sie saßen nebeneinander an einem der vorderen Tische im Klassenraum. Greta war wegen ihrer extremen Kurzsichtigkeit auf diesen Platz angewiesen, sonst hätte sie trotz Brille kaum etwas von der Tafel ablesen können. Bei Tess war es das In-der-ersten-Reihe-sitzen-Wollen. Sie hatte sich, im Gegensatz zu Greta, ihren Platz selbst ausgesucht. Am ersten Schultag hatten sie auf dem Schulhof ein paar Feierlichkeiten über sich ergehen lassen müssen.Anschließend hatte man ihnen den Klassenraum gezeigt, sie probeweise an den Tischen Platz nehmen lassen. Tess hatte drei oder vier Stühle ausprobiert und sich dann für den an Gretas Seite entschieden. Am zweiten Schultag begann der Ernst des Lebens. Tess war bestens darauf vorbereitet. Ihr älterer Bruder Joachim hatte sie bereits durchs Alphabet und die Wunderwelt der Zahlen geführt. Sie war die Einzige in der Klasse, die schon am zweiten Tag ihren Namen schreiben konnte. Tessa Damner. Zu Anfang profitierte Greta stark von Tess. Zum einen zogen die Schönheit, Lebhaftigkeit und überschäumende Phantasie andere Kinder an wie ein Magnet. Plötzlich war auch Greta von einer Horde umgeben, die sich vor Bewunderung und manchmal vor Neid überschlug. Zum anderen hatte Tess nicht den Ehrgeiz, ihren Vorsprung an Wissen und Können für sich allein zu nutzen. Schon in der ersten Woche weihte sie Greta ein. Während die anderen sich noch mühsam jeden Buchstaben erarbeiteten, schrieben sie bereits Sätze auf ihre Tafeln. Rechnen konnten sie auch alleine. Tess warf einen Blick auf die Zahlen, winkte gelangweilt ab, verdrehte die Augen mit der Überheblichkeit der Wissenden.
    «Das ist doch leicht.»
    Alles war leicht bei ihr. Alles fiel ihr in den Schoß. Und da Greta stets neben ihr war, fiel für sie genügend ab. Doch das war kaum der Grundstein für diese feste und andauernde Beziehung. Es müssen die Sätze gewesen sein, die Tess am zweiten Schultag sagte, nachdem sie Greta eine Weile von der Seite gemustert hatte. Es muss der Hauch von Bewunderung, Andacht und Ehrfurcht in ihrer Stimme gewesen sein.
    «Du hast aber viele Haare. Und so eine schöne Brille. Darf ich mal durchsehen? Mein Bruder hat auch eine. Die ist aber nicht schön. Er will sie mir auch nicht borgen, weil sie immer kaputtgeht. Dann kriegt er Ärger mit Vati, weil er nicht aufgepasst hat.»
    Greta hasste ihre Haare, dieses krause Gewimmel, das auch dann noch in alle Richtungen vom Kopf abstand, wenn ihre Mutter morgens den Versuch unternommen hatte, ihr stramme Zöpfe zu flechten. Sie hasste die morgendliche Tortur, wenn man ihr mit Kamm und Bürste drohte. Zweimal hatten sie die Mähne
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