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Meine Wut ist jung

Meine Wut ist jung

Titel: Meine Wut ist jung
Autoren: Gerhart Baum
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Hamburg, Bremen und in Baden-Württemberg. Uns trieb damals wirklich die Sorge um, der braune Ungeist könne in Gestalt neuer Rattenfänger - möglicherweise begünstigt durch eine Wirtschaftskrise - den demokratischen Aufbau der Republik infrage stellen. Die Bundesrepublik Deutschland war keineswegs so gefestigt wie heute. Dass dieses keine abseitige Meinung war, belegt die Rede, die Thomas Dehler 1966 unmittelbar nach Bildung der Großen Koalition im Deutschen Bundestag gehalten hat. Er sagte: »Ich bin nur skeptisch, Herr Schmidt, dass die Demokratie in unserem Volke, ich glaube, Sie sagten: verankert oder tief verwurzelt sei. Ich glaube es nicht.« Der spätere Bundeskanzler Schmidt erwiderte in einem Zwischenruf: »Fester als vor einer Generation!« Das ist nicht zu bestreiten und das hat Dehler auch nicht gemeint.
    Die Gefahren von rechts wurden von der Gesellschaft eher verharmlost und weckten weit weniger Bereitschaft zum Widerstand als der Kampf gegen den Linksextremismus. Lange Zeit wurde der eher links-liberale Kölner Verband in der NRW-FDP wie eine aussätzige Minderheit behandelt. Aber wir haben gekämpft und uns am Ende durchgesetzt.
    Leitbild war für uns das Verhalten kämpferischer Liberaler direkt nach dem Krieg in der späteren DDR. Sie hatten es - im Gegensatz zu uns - mit einem Unrechtsregime zu tun. So beschrieb es Karl-Hermann Flach: »Die liberale Jugend ging lieber ins Zuchthaus oder nach Sibirien, ehe sie Verrat an der Freiheit übte.« Einige dieser Liberalen - wie Arno Esch - wurden für ihre Überzeugungen hingerichtet.
    Woher bezogen Sie Ihre Ideale und an wem orientierten Sie sich damals?
    Wir verstanden uns als Liberale in der Tradition des Hambacher Festes (1832) und der Paulskirchenverfassung von 1848. Wir wollten unser freiheitliches Lebensgefühl auf allen Feldern der Politik einbringen. Thomas Dehler, Jahrgang 1897, war für mich damals ein väterlicher Freund. Dehler galt als unbequemer und sehr selbstbewusster Hitzkopf, der in seiner rigorosen Liberalität und als Justizminister eine große Strahlkraft auf mich und andere ausübte - bei aller Kritik an ihm war er ein Glücksfall für die FDP. Bei der Vorbereitung dieser Gespräche habe ich festgestellt, dass Dehlers Reden heute noch eine wahre Fundgrube für liberale Grundüberzeugungen sind. Unsere Gegner waren u.a. die Anhänger von Erich Mende. Wir standen an der Seite von Liberalen wie Theodor Heuss und Hildegard Hamm-Brücher, von Walter Scheel, Karl-Hermann Flach, Wolfgang Rubin und nicht zuletzt Hans-Dietrich Genscher. An einige Kölner Mitstreiter aus dieser Zeit erinnere ich mich gern - u.a. an Klaus Schumann, Fritz Gericke, Bernhard Piltz und Peter Finkelgrün. Auf Bundesebene waren es vor allem Heiner Bremer und Günter Verheugen.
    Welche politische Grundstimmung prägte die 1960er-Jahre, in denen Sie Ihre Überzeugungen durchsetzen wollten?
    Das politische Umfeld Anfang der 1960er-Jahre war vor allem durch ein wachsendes Bewusstsein für die individuelle Schuld in der Nazizeit gekennzeichnet. Ich erinnere an den Eichmann-Prozess 1961, an den Auschwitz-Prozess 1963/65 und an die sichtbar werdende persönliche Verstrickung einzelner prominenter Politiker.
    Die endgültige Aufhebung der Verjährung für Mord - also auch für die Nazi-Morde - erfolgte nach jahrelangen heftigen Debatten erst im Jahre 1979 durch die sozialliberale Koalition. Im Zusammenhang mit diesen Debatten hatten wir Jungdemokraten in den Jahren 1960 bis 1965 eine besonders pikante Aktion durchgeführt, die wir selbst finanzierten: Wir haben »Parteiinterne Rundbriefe gegen alte Nazis« verfasst und versandt. Sie hatten jeweils eine wechselnde Auflage von 400 bis 4.000 Exemplaren. Wir wollten damit eine innerparteiliche Debatte in Gang setzen, weil die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nicht konsequent geführt wurde. Eine heftige parteiinterne Diskussion war die Folge. Der Initiator, Ulrich Keitel, hat später - im Jahre 2001 - die Aktion in einem Buch unter dem Titel »Sehr geehrter Parteifreund …« dokumentiert.
    Ich nenne ein weiteres Beispiel für die damalige Stimmung: Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich als Vorsitzender der Jungdemokraten im Kölner Gürzenich gemeinsam mit dem »Ring politischer Jugend« an einem Sonntagmorgen den Film »Nacht und Nebel« (1955) von Alain Resnais aufführen ließ. Dieser Film zeigt die Wahrheit über die KZs in erschreckenden und verstörenden Bildern. Die Aufführung erregte
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