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Meine Wut ist jung

Meine Wut ist jung

Titel: Meine Wut ist jung
Autoren: Gerhart Baum
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versuchte, in der Schule 1948 eine Erinnerungsfeier für die ermordeten Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 zu organisieren. Diese wurde von der Schulleitung verboten und ich begriff, was das bedeutete: Die Nazis waren noch unter uns! Grotes wissenschaftliches Lebensthema war die Revision des deutschen Geschichtsbildes, das heißt, die Aufdeckung von Fehlentwicklungen, die zum welthistorischen Skandal des Hitlerismus führten. Dessen Ursachen waren aus Grotes Sicht nicht machtpolitische Zufälle, sondern Strukturfehler in der deutschen Geschichte bis hin zur Bismarck’schen Staatskonstruktion. Sein Hauptwerk erschien 1960 unter dem Titel »Unangenehme Geschichtstatsachen - Zur Revision des neueren deutschen Geschichtsbildes«.
    Was haben Sie für sich selbst von Ihren »Ersatzvätern« mitgenommen?
    Von Naumann viele musische Impulse und Lebensart. Von Grote Impulse auf zahlreichen intellektuellen Feldern. Da er eine riesige Bibliothek besaß, hatte ich schon früh Zugang zu vielen Büchern. Er prägte mich politisch. Zum Beispiel, indem er mir klarmachte, dass mit Revanchismus ein neues Europa nicht aufgebaut werden kann. Jahre später sollte mich diese Erkenntnis veranlassen, auf FDP-Parteitagen für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze zu kämpfen. Er hat mich auch geprägt in Sachen Marktwirtschaft. Wir lasen die Bücher des sozialliberalen Wirtschaftstheoretikers Wilhelm Röpke. Grote stand dem Stefan-George-Kreis nahe. Wir lasen neben George auch viel Rilke und Hofmannsthal. Vor allem aber hat er mir Thomas Mann nahegebracht, der mit seinem Werk und als Repräsentant des anderen, des humanen und gesitteten Deutschland mich bis heute begleitet. Ich erinnere mich, wie Grote mir und meinem engsten Freund Franz Negele an kalten Winterabenden »Tonio Kröger« vorlas. Er hat mich später auch veranlasst, nach Lektüre des Doktor Faustus einen Brief an Thomas Mann zu schreiben. Dieser Roman interessierte mich besonders, weil er sich mit den Deutschen und ihrem Schicksalsweg bis hin zur Katastrophe auseinandersetzte. In gestelztem Schülerdeutsch gab ich meine Zweifel zum Ausdruck und meine Befürchtung, dass die Höllenfahrt des Doktor Faustus als eine deutsche Höllenfahrt noch nicht überwunden sei. Thomas Mann antwortete tatsächlich auf meine Zeilen, kurz, aber freundlich und zustimmend.
    Beide väterlichen Freunde haben mich geprägt - jeder auf seine Weise. Sie verstanden sich auch untereinander gut. Grote an meiner Seite zu wissen, war ein besonderer Glücksfall, das spüre ich bis heute. Er hat auch meine musische Seite geweckt, meine Liebe zur Kunst und Musik, die Affinität zu Büchern, die mich später durch die Antiquariate streifen ließ. Und mein Interesse an Politik. Wir haben sehr viel über Politik diskutiert. Diese Gespräche haben mein Leben stark beeinflusst.
    Wie ist Ihre Mutter mit der Herausforderung fertiggeworden, in dieser schwierigen Zeit für die Familie zu sorgen?
    Sie war die verwöhnte Tochter eines russischen Fabrikanten, wuchs in einem Mädchenpensionat auf und hatte nichts gelernt, was beruflich verwertbar gewesen wäre. 1945 stand sie dann da mit drei Kindern, alles, was wir hatten, befand sich in drei Koffern. Bis zur Währungsreform ging es einigermaßen gut. Allerdings gab es Phasen, in denen wir wirklich hungerten. Meine Mutter musste Geld verdienen. Der Grundbesitz in Dresden, das Haus, alles war verloren. Doch Mutter erwies sich als lebenstüchtig und auch als finanziell sehr geschickt. Sie nutzte Möglichkeiten wie den Lastenausgleich und die Witwenrente. Weil das nicht reichte, um die Familie zu ernähren, übernahm sie eine Vertretung für medizinische Geräte und verkaufte in der ganzen Republik »Eiserne Lungen« an Krankenhäuser. Sie war eine sehr attraktive und kommunikative Frau. Das half in einer männlich dominierten Welt. Während dieser Zeit hatte ich meine beiden Geschwister zu versorgen. Ich war sechs Jahre älter und sorgte dafür, dass sie in die Schule gingen, Schularbeiten machten, zu Bett gingen, aßen, all das, was eben Eltern machen. Das Geldverdienen vom Tegernsee aus wurde wegen der ländlichen, abgeschiedenen Lage schwieriger und meine Mutter zog 1950 mit uns und ihrem Freund Naumann nach Köln. Dort baute sie ein kleines Haus und begann eine Maklertätigkeit. Sie entwickelte Projekte mit Eigentumswohnungen. Im Großen und Ganzen erfolgreich, dennoch gab es Phasen der Existenznot. Aber sie war eine Kämpfernatur und gab niemals auf.
    Was haben Sie
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