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Meine Wut ist jung

Meine Wut ist jung

Titel: Meine Wut ist jung
Autoren: Gerhart Baum
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aktuell bewegt, sich nicht die Mühe machen, sich auch neuen Klangformen zu öffnen. Es ist offensichtlich einfacher, durch eine Ausstellung moderner Kunst zu schlendern, als im Konzertsaal auszuharren.
    Wie sehr hat Ihre Frau Renate Liesmann-Baum als Musikfachfrau Ihr Interesse an Musik geschärft?
    Mein Interesse an Musik, auch an der zeitgenössischen, war ja immer vorhanden, wenn auch berufsbedingt zeitweise vernachlässigt. Bereits Anfang der 1950er-Jahre besuchte ich im Kölner Funkhaus regelmäßig die Konzerte der legendären Reihe »Musik der Zeit«. Aber zu Ihrer Frage: Ja, meine Frau Renate hat in den letzten 20 Jahren wesentlich zum Verständnis vor allem der neuen Musik beigetragen; sie hat mir zu »happy new ears« verholfen und mir Musik nahegebracht, die ich bis dahin gar nicht kannte. Durch sie lernte ich auch eine ganze Reihe von Komponisten und Interpreten persönlich kennen. Einige sind mittlerweile gute Freunde geworden - wie die Komponisten Helmut Lachenmann, Wolfgang Rihm, Johannes Kalitzke und Manos Tsangaris oder die Pianistin Pi-hsien Chen und der Pianist Andreas Staier.
    Eine moderne demokratische Gesellschaft ist für mich ohne Kultur nicht vorstellbar. Aber Kultur kann nur gedeihen, wenn die Gesellschaft sie akzeptiert, respektiert und fördert. Kultur ist und war immer ein Interesse von Minderheiten. Trotz aller Vermittlungsprogramme, die es heute gibt, kann man grundsätzlich daran nichts ändern. Aber Kultur muss durch die Mehrheit geschützt werden. In Parlamenten beispielsweise interessieren sich wenige Abgeordnete für Kultur, aber es gibt doch immerhin eine Mehrheit, die Kulturförderung akzeptiert. Unsere Gesellschaft wird heute durch ökonomisches Effizienzdenken bestimmt. Umso wichtiger ist es, den Mensch auch als kulturelles Wesen zu begreifen und das kreative Potenzial jedes Einzelnen sich entwickeln zu lassen. »Jeder Mensch ist ein Künstler«, hat Joseph Beuys gesagt und hat genau dieses ausdrücken wollen: In jedem Menschen steckt ein kreatives Potenzial, das im Interesse der Zukunft unserer Gesellschaft entwickelt werden muss. »… was uns unter dem ungeheuren Begriff Kunst als Nachricht von Geist und kreativer Freiheit anvertraut ist …« - so hat mein Freund, der Komponist Helmut Lachenmann, den Stellenwert von Kunst wunderbar beschrieben. Und deshalb ist kulturelle Bildung so wichtig. Je früher wir den Menschen einen Weg zur Kultur bereiten, desto besser.
    Muss das bereits im Kindergarten ansetzen? Kleinstkinder an Musik, an Theaterspiel, an kreative Spiele heranzuführen?
    Es gibt heute viele Kulturvermittlungsprogramme, die ich sehr begrüße. In der Musik etwa die Früherziehungsprogramme in den Musikschulen. Ich nenne beispielhaft auch das »JEKI-Projekt« in einigen Regionen von Nordrhein-Westfalen: »Jedem Kind ein Instrument«, das allen Kindern in Grundschulen offen steht. Die Idee ist, dass jedes Kind sich einmal im Leben mit einem Musikinstrument vertraut machen muss - ganz gleich, was es später daraus macht. Gezieltes Heranführen von Kindern und Jugendlichen an die Kultur ist inzwischen Standardaufgabe fast aller Theater, Opernhäuser und Orchester in Deutschland. Dazu kommen Spezialprogramme etwa der Bundeskulturstiftung und anderer Stiftungen. All diese Maßnahmen sind ganz wichtig. Leider aber muss man feststellen, dass in unseren Schulen die Vermittlung von Kultur im Stundenplan eher abgebaut wurde. Das kann doch bestimmt nicht nur am Lehrermangel liegen. Dabei ist die kulturelle Bildung - ich betone es noch einmal - für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft unverzichtbar.
    Zur kulturellen Bildung gehört in einem Einwanderungsland wie Deutschland natürlich auch der Blick auf die Kulturen aus aller Welt, die von Migranten in unser Land getragen werden und unser europäisch geprägtes Kulturverständnis bereichern. Im gegenseitigen Informationsaustausch und in kulturellen Gemeinschaftsprojekten liegt eine große Chance für ein gedeihliches Zusammenleben. Gerade jetzt in einer Zeit finanzieller Knappheit darf man eine breite Kulturförderung nicht aus dem Blick verlieren. Kultur ist kein Luxus für Schönwetterzeiten. Kulturförderung ist auch nicht eine x-beliebige Subvention, wie etwa für Agrarprodukte, sondern Kultur ist überlebensnotwendig für jede Gesellschaft.
    Die reiche Ausstattung der Kultur ist geradezu ein Alleinstellungsmerkmal für unser Land. Es gibt Theater, Opernhäuser, Orchester, Museen - mehr als in jedem anderen Land
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