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Meine Schwester und andere Katastrophen

Titel: Meine Schwester und andere Katastrophen
Autoren: Anna Maxted
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Hebräisch lernen sollte. (Das Risiko, Cassie hinzuschicken, wollten sie nach der Tennisschlägerepisode lieber nicht eingehen, schließlich sind den Juden ihre Gebetbücher heilig.)
    Und so wurde ich sonntagmorgens in die nächste Synagoge geschickt, wo uns eine uralte Polin mit schütterem Haar zwang, aus der Tora zu lesen. Das hebräische Alphabet blieb mir immer ein Buch mit sieben Siegeln, und auch das Thema sagte mir nicht besonders zu: Gott, Gott, Gott. Es kam den Verantwortlichen nicht in den Sinn, dass eine Horde von Zwölfjährigen mit einer hebräischen Version der Chroniken von Narnia vielleicht besser bedient gewesen wäre, und selbst wenn ich die Lehrer im Rückblick für ihre kompromisslose Prinzipientreue bewundern muss, so habe ich doch bis heute das Gefühl, dass sie damit ein Eigentor geschossen haben.
    Ich verbrachte diese endlosen drei Stunden Hebräischunterricht mit Perspektivstudien - anders gesagt, ich maß mit einem zusammengekniffenen Auge zwischen Zeigefinger und Daumen ab, wie winzig der Tafelschwamm von meinem Sitzplatz aus wirkte (einen Zentimeter groß, wenn überhaupt), wo ich doch genau wusste, dass er die Größe eines Ziegelsteins hatte. Auf diese Weise überstand ich Minute um Minute und zog mir gleichzeitig den glühenden Zorn der alten Vettel zu, die mich anzeterte: »Du maachst iiimmer nur pieck-pieck-pieck .« Dabei imitierte sie, wie mein Daumen und Zeigefinger, einem Vogelschnabel gleich, auf und zu gingen.

    Komischerweise wurde ich damals von Cassie errettet. Sie erklärte sich einverstanden, es mit Ponyreiten zu probieren, aber nur, wenn ich mitkäme. Die Reitstunden überschnitten sich mit dem Hebräischunterricht, aber unsere Eltern waren so darauf bedacht, es ihrer jüngsten Tochter recht zu machen - oder sie vielmehr vormittags aus dem Haus zu haben -, dass ich noch in derselben Woche aus diesem muffigen, sauerstofffreien Klassenzimmer befreit wurde. Stattdessen verbrachte ich meine Sonntagvormittage damit, in einer engen Box Pferdemist zu schaufeln, ein Privileg, für das unsere Eltern fürstlich bezahlten.
    Ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf, dass sie uns nicht verstanden. Ich verstand sie auch nicht. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass Elternsein eine Aufgabe ist, die keinen Dank einbringt und vor allem in der Bemühung besteht, den undankbaren Nachwuchs dazu zu bringen, dich in Frieden zu lassen. Und meine Eltern hatten noch Glück. Gott sei dir gnädig, wenn du kein Geld hast, um dieses Problem aus der Welt zu schaffen (so wie Tim und ich). Nicht dass es mir in meiner momentanen Zwangslage genützt hätte, aber eine gute Sache hatte meine nicht ganz perfekte Kindheit - trotz des unsicheren Beginns und ein paar kleinerer Heizkörperverbrennungen - immerhin gebracht: Cassie und ich waren Freundinnen geworden.

KAPITEL 3
    Als ich jünger war, war die Tatsache, dass es Abtreibungen gab, für mich vergleichbar mit der Tatsache, dass unsere Eltern ein Auto hatten - beides war praktisch, und man konnte es haben, sollte man es je brauchen.
    Ich hatte schon mehrmals auf das kleine weiße Stäbchen gestarrt, bis es sich dazu herabgelassen hatte, über mein Schicksal zu bestimmen wie ein römischer Imperator: Daumen nach oben oder Daumen nach unten. Du kannst es immer noch wegmachen lassen, hämmerte mein ängstlich galoppierendes Herz, während ich darauf wartete, dass sich der dünne blaue Strich zeigte. Damals war es immer nur ein Es . Die Angst machte mich kaltherzig, ich konnte ausschließlich an mich selbst denken.
    Aber jetzt war ich in einer langfristigen Beziehung. (Ich würde für mein Leben gern einmal auf die Beschreibung einer langfristigen Liebesaffäre stoßen, in der die Beteiligten keine Filzpantoffeln an die Füße geschmiedet bekommen.) Außerdem war ich zweiunddreißig. Es waren nicht nur die Polizisten jünger als ich, sondern auch die Sportler, Sänger, Schauspieler und Künstler. Ich hatte keine Ausrede mehr. Ich war an dem Punkt, an dem ich auf die verschlungenen Wege meines bisherigen Lebens zurückblickte und mir dachte, puh, an dieser Katastrophe bist du wirklich um Haaresbreite vorbeigeschrammt.

    Es wegzumachen stand nicht mehr zur Debatte. Tim und ich erwogen es nicht einmal.
    Wobei wir uns andererseits auch nicht vorstellen konnten, was in neun Monaten passieren würde. Tim behauptete , dass er glücklich war. Und demonstrierte das, indem er den ganzen Tag unterwegs war, bis er schließlich bleich und zittrig heimkam.
    Nachdem er eine Woche
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