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Meine gute alte Zeit - Teil I

Meine gute alte Zeit - Teil I

Titel: Meine gute alte Zeit - Teil I
Autoren: Agatha Christie
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Großmutter, eine reizende junge Witwe von siebenundzwanzig Ja h ren, blieb mit vier Kindern und einer bescheidenen Witwenpension zurück. Ihre ältere Schwester, die kurz zuvor einen reichen Am e rik a ner als dessen zweite Frau geheiratet hatte, schrieb ihr und bot ihr an, eines der Ki n der zu adoptieren und als ihr eigenes großzuziehen.
    Dieses Angebot glaubte die bekümmerte junge Witwe, die verzweifelte Anstrengungen unternahm, mit Näha r beiten das Nötige dazuzuverdi e nen, um ihre vier Kinder zu ernähren und aufzuziehen, nicht ausschlagen zu kö n nen. Von den drei Ju n gen und dem Mädchen fiel ihre Wahl auf das Mädchen. Meine Mutter verließ daher Jersey und kam in ein ihr fremdes Haus im Norden Englands. Ich glaube, dass ihr Groll, das schmerzliche Gefühl, u n erwünscht zu sein, ihre Einstellung zum Leben beei n flusste. Sie begann an sich selbst zu zweifeln und der Z u neigung ihrer Umgebung mit Misstrauen zu begegnen. Ihre Tante war eine liebenswürdige Frau, gutmütig und großherzig, jedoch außer Stande, sich in die Empfindu n gen eines Kindes einzufühlen. Meine Mutter genoss alle die so genannten Vorteile eines behaglichen D a heims und einer guten Erziehung – doch was sie verlor und was sich durch nichts ersetzen ließ, das war das sorglose Leben mit ihren Brüdern in ihrem eig e nen Heim. In Leserbriefen in Zeitungen habe ich zu wiederholten Malen Anfragen b e sorgter Eltern gesehen, ob sie ein Kind »wegen der Vo r teile, die ich ihm nicht bieten kann – wie etwa eine ers t klassige Erziehung« –, der Obhut anderer Menschen a n vertrauen sollten. Immer wieder drängt es mich, ihnen zuzurufen: »Tut es nicht!« Das eigene Heim, die eigene Familie, Li e be und das Gefühl, dazuzugehören – was ist dagegen die beste Erzi e hung der Welt?
    Meine Mutter war todunglücklich in ihrem neuen L e ben. Nacht für Nacht weinte sie sich in den Schlaf, wurde immer dünner und blasser und schließlich so krank, dass die Tante den Arzt kommenließ. Er war ein älterer, erfa h rener Mann, und nachdem er die Kleine untersucht und mit ihr gesprochen hatte, ging er zu ihrer Tante und sa g te: »Das Kind hat Hei m weh.« Die Tante war überrascht und wollte es nicht glauben. »Aber nein«, sagte sie, »das ist völlig unmöglich. Clara ist ein gutes stilles Kind, sie macht uns nie Ärger, und sie ist sehr glüc k lich.« Aber der alte Arzt ging zu dem Mädchen zurück und sprach noch einmal mit ihm. Sie hatte Brüder, nicht wahr? Wie viele? Wie hießen sie? Es dauerte gar nicht la n ge, und sie brach in bittere Tränen aus, und die ganze Wahrheit kam an den Tag.
    Da sie sich nun den Kummer von der Seele geredet ha t te, löste sich die Spannung, doch das Gefühl, »nicht e r wünscht zu sein«, blieb. Ich glaube, sie hat es meiner Großmutter bis zu ihrer letzten Stunde ang e kreidet. Sie schloss sich eng an ihren amerikanischen »Onkel« an. Er war damals schon ein kranker Mann, hatte aber Zune i gung zu der stillen, kleinen Clara g e fasst. Sie pflegte zu ihm zu kommen und ihm aus ihrem Lie b lingsbuch Der König vom Goldenen Fluss vorzulesen. Doch die einzigen wirklichen Lichtblicke in ihrem Leben waren die rege l mäßigen Besuche des Stiefsohns ihrer Tante – ihres so g e nannten »Vetters« Fred. Er war damals ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren und immer besonders freundlich zu seiner kleinen »Base«. E i nes Tages, als sie knapp elf war, hörte sie, wie er zu seiner Stiefmutter sa g te: »Was für schöne Augen Cl a ra hat!«
    Clara, die sich immer für furchtbar unansehnlich geha l ten hatte, ging nach oben und musterte sich im großen Spiegel des Toilettentisches ihrer Tante. Vielleicht waren ihre Augen wirklich ganz hübsch? Sie fühlte sich unen d lich ermutigt. Von di e sem Tag an gehörte ihr Herz für immer Fred.
    »Fred«, sagte ein alter Freund der Familie drüben in Amerika zu dem lebenslustigen jungen Mann, »eines T a ges wirst du deine kleine englische Base heiraten.«
    »Clara?«, erwiderte er erstaunt. »Sie ist doch nur ein Kind!«
    Aber er empfand immer eine besondere Zuneigung zu dem Mä d chen, das ihn so schwärmerisch verehrte. Er bewahrte ihre kindlichen Briefe auf, die Gedichte, die sie ihm schickte, und nach einer langen Reihe von Liebeleien mit amüsanten Mä d chen und schönen Frauen der New Yorker Gesellschaft (da r unter auch Jenny Jerome, die spätere Lady Randolph Chu r chill) kehrte er nach England in die Heimat z u rück und bat die stille kleine Base,
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