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Meine geheime Autobiographie - Textedition

Meine geheime Autobiographie - Textedition

Titel: Meine geheime Autobiographie - Textedition
Autoren: M Twain
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treiben. Doch in Wahrheit werden Komplimente manchmal tatsächlich
verschenkt
, ohne eine Rechnung zu präsentieren. Ich weiß, das kann einmal im Jahrhundert vorkommen, denn einmal ist es mir widerfahren, und ich bin noch kein Jahrhundert alt. Es war vor neunundzwanzig Jahren. Damals hielt ich Vorträge in London. Ich bekam einen ausgesprochen entzückenden Brief, der vor warmem und gelungenem Lob nur so glänzte und glühte – und es gab
weder Unterschrift
noch Adresse!
    Es war ganz mein – unentgeltlich – gratis – eine Rechnung war nicht beigefügt, ich brauchte nicht zu zahlen, ich
konnte
gar nicht zahlen – ein völlig kostenloses Geschenk! Es ist das einzige Gratiskompliment, das ich je erhalten habe, das einzige, von dem ich je gehört habe. Immer, wenn ein Fremder ein Kompliment mit Namen und Anschrift versieht, besteht er auf Nachnahme. Vielleicht nicht wissentlich und willentlich, aber das liegt nur daran, dass er es nicht gewohnt ist, seine Motive bis auf den Grund zu durchleuchten. Das vermeiden die Leute. Und auf gewisse Weise ist es sogar klug, denn die meisten unserer Motive sollten uns verborgen bleiben. Das weiß ich aus langer Erfahrung und nach eingehender Prüfung meiner eigenen.
    Es ist nicht recht, dass ein Fremder mir sein Buch selbst zuschickt. Es ist peinlich für ihn, es ist peinlich für mich. Ich habe diese Behandlung nicht verdient, ich habe ihm keinen Schaden zugefügt. Warum es mir nicht durchB zuschicken lassen und B anweisen, mir zu sagen: »Nehmen Sie keine Notiz davon, es sei denn, Sie fühlen sich wirklich dazu bewogen, denn A ist bescheiden und empfindlich und wäre gekränkt, wenn er wüsste, was ich da tue.«
    Wenn nicht der Knüppel über mir schwebte, wäre ich so dankbar, dass ich in dem Buch Verdienste entdecken würde, die es weder in ihm noch sonst wo gibt. Aber nein, der Verfasser schickt es jedes Mal selbst. Er weiß, es ist unfair; er schämt sich dessen und versucht scherzhaft, das Gegenteil vorzutäuschen, doch sein Brief verrät ihn jedes Mal. Er ist sich bewusst, dass er bettelt. Und zwar nicht etwa um eine aufrichtige Meinung zu seinem Buch, sondern um Werbung. Er ist sich bewusst, dass Sie ihm genau das schreiben wollen, aber er ist sich auch bewusst, dass Ihre Selbstliebe Sie daran hindern wird. Einen von zwei Sätzen verwendet er immer: 1. Er bewundert Sie. 2. Als Sie ein Anfänger waren und um Anerkennung kämpften, haben Sie bestimmt auch Hilfe und Ermutigung erbeten und erhalten. Es ist ein eigentümlicher Mangel an Takt. Er will eine Zuwendung von Ihnen und räumt Ihnen die Steine aus dem Weg, indem er sie als eine Bringschuld darstellt – es ist Ihre
Pflicht
, sie zu gewähren. Das mag zwar zutreffen, dennoch nehmen wir es übel; wir wollen unsere Pflichten nicht von Fremden vorgeschrieben bekommen. Bald zieht der Fremde die unhöfliche Veranstaltung spaßhaft durch, bald in schmucklosem Englisch; doch in beiden Fällen meint er es todernst, und in dem einen Fall sagt es Ihnen ebenso wenig zu wie in dem anderen.
    Soweit ich feststellen kann, bin ich genauso beschaffen wie andere Menschen auch, und so schätze ich ein gutes, herzliches Kompliment höher als Rubine; und bin dankbar dafür und genauso froh wie Sie, wenn ich es mit einem aufrichtigen Gegenkompliment erwidern kann. Aber wenn jemand über Komplimente hinausgeht, freut es mich nicht etwa, es beschämt mich. Es beschämt
mich
; ich denke nicht an ihn, ich denke an mich; soll er sich demütigen, soviel er will, das ist sein Vorrecht,
ich
aber will nicht gedemütigt werden. Vergötterung. Vergötterung – ob ausgesprochen oder nur angedeutet. Und niemals vonnöten; niemals verdient, von keinem Menschen. Was muss ein König leiden! Denn in seinem tiefsten Herzen weiß er, dass er wiewir alle ein armer wertloser Erdenwurm ist, eine Spottgeburt, die größte Fehlgeburt, die der Schöpfer ersonnen hat, moralisch allen Tieren unterlegen, in der einen oder anderen herausragenden körperlichen Eigenschaft jedem einzelnen unterlegen, nur in
einem
Talent ist er ihnen überlegen, und selbst in diesem einen nicht so, wie er es einschätzt – seinem Intellekt.
    Ich weiß nicht, wie ich den Brief des Fremden beantworten soll. Ich wünschte, er hätte mich verschont. Aber schweigen wir von ihm – ich denke dabei an mich; ich wünschte, er hätte
mich
verschont. Das Buch ist noch nicht eingetroffen; und doch bin ich bereits voreingenommen.
     
    Ich vermute, der Leser – wenn er ein gereifter und
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