Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meine 500 besten Freunde

Meine 500 besten Freunde

Titel: Meine 500 besten Freunde
Autoren: Johanna Adorján
Vom Netzwerk:
»Beim nächsten Ausatmen geht ihr in die Vorwärtsbeuge«, sagte Ayumi jetzt lauter. Der Lärm war ohrenbetäubend, er musste direkt aus dem Hof kommen, sodass die umstehenden Häuser den Schall noch verstärkten. Die Musik war nicht mehr zu hören. »Einatmen. Flacher Rücken.« Ihre Stimme kam ihr selbst unangenehm hoch vor, aber in ihrer normalen Sprechlage wäre sie nicht mehr zu verstehen gewesen. Kackscheiße , v erfickte Scheißvollidioten, hirnrissige Arschwichser, was mussten die ausgerechnet jetzt zu bauen anfangen, mitten in ihrer Stunde, diese gehirnamputierten Vollwichser usw. Holger stand immer noch hinter dem Mädchen. Dass der frei rumläuft , dachte es in Ayumi, die nun auch zu einer der Teilnehmerinnen ging, einer zierlichen Tätowierten mit hässlich verformten Füßen, die sie noch nie hier gesehen hatte, und ihr durch einen Handgriff bedeutete, die Oberschenkel kräftiger anzuspannen. »Aktiviert die Muskeln ums Knie«, sagte sie. »Vorbeuge. Und beim nächsten Einatmen mit geradem Rücken nach oben kommen.« Der Lärm brachte sie fast aus dem Konzept. Sie hatte ohnehin Mühe, sich bei ihren Anweisungen nicht zu vertun, oft erinnerte sie sich nicht, ob die Gruppe gerade aus- oder eingeatmet hatte, und manchmal verwechselte sie rechts und links. Es ärgerte sie immer, wenn sie einen Irrtum bemerkte oder, schlimmer, jemand aus der Gruppe sie halblaut korrigierte, was zum Glück nicht oft vorkam.
    Holger hatte inzwischen von dem hübschen Mädchen abgelassen und steuerte auf deren Nachbarin zu, eine große blonde Frau, die schon etwas älter war und ungewöhnlich biegsam, bestimmt war irgendetwas mit ihren Sehnen nicht in Ordnung, hoffte Ayumi. Sie ging immer etwa zehn Minuten vor Schluss. Als es das erste Mal vorgekommen war, hatte Ayumi gedacht, die Frau wäre wohl mit irgendetwas unzufrieden, Drecksfotze! , inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Sie wurde jetzt von Holger halb gestützt, halb geschoben – die Ärmste –, während Ayumi die Gruppe durch mehrere Sonnengrüße sprach. Sie machte keinen Fehler, hatte aber das Gefühl, nicht bei der Sache zu sein. Wie auf Autopilot rief sie die Anweisungen, um den Lärm des Pressluftbohrers zu übertönen, während Holger von Teilnehmerin zu Teilnehmerin wechselte wie eine dicke, zufriedene Biene von Blüte zu Blüte, und Hilfestellungen gab, wo keine nötig waren.
    Als die Gruppe schließlich ins Liegen gekommen war, um die folgenden Rückbeugen zu machen, hatte sich auch Holger wieder auf seine Matte bequemt und lag da nun wie ein dicker großer Maikäfer, der auf den Rücken gefallen war. Na, Fettsack? Wie war er nur zu Yoga gekommen? Die anderen Männer aus der Lehrerausbildung waren alle entweder schwul oder ehemalige Tänzer wie Anselm. Einer hatte bei einem Assistenten von Marcel Marceau Pantomime gelernt, ein anderer war Schauspieler, alle hatten über verschiedene Irrwege zu Yoga gefunden, von denen viele in New York begonnen hatten, liebäugelten mit Buddhismus oder Hinduismus und hatten mindestens an einer Körperstelle eine Tätowierung. Holger war anders. Ayumi konnte ihn sich gut beim Holzfällen vorstellen, zur Not auch beim Rugby, aber längere Zeit auf einem Bein zu stehen, das andere in der Luft nach hinten ausgestreckt und beide Arme nach vorne, sah bei einem Mann seiner Ausmaße einfach abwegig aus. Ob er sich für etwas anderes hielt als er war? Etwas weitau K Etin ds zierlicheres? Einmal war er mit einem Haarreifen erschienen, wie junge Mädchen sie tragen, Farbe türkis. Natürlich wusste Ayumi, dass es falsch war, über andere zu urteilen. Sie kannte das Gesetz des Karma, das besagte, dass jede Aktion eine Reaktion nach sich zog, doch je mehr sie sich gegen ihre negativen Gefühle zu stemmen versuchte, desto heftiger wurde die Welle der Apathie, die sie ergriff.
    Erst als der Lärm des Presslufthammers wieder einsetzte, fiel Ayumi auf, dass es zuvor eine Weile still gewesen war. »Lasst euch durch Außengeräusche nicht stören«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zur Gruppe. »Nehmt sie als Möglichkeit wahr, euch noch mehr auf euch selbst zu konzentrieren. Auf euren Atem im Raum. Drückt die Füße in den Boden und hebt das Becken, wir kommen in die Brücke.« Sie musste Holger nicht ansehen, um zu wissen, wie er jetzt aussah. Ein Koloss, der sich in die Höhe stemmte, die Grazie eines angeschwemmten Wals. Wenn er doch nur einfach aufstehen, seine Matte nehmen und verschwinden würde. Gab es denn gar keine Kranken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher