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Mein Wille geschehe

Mein Wille geschehe

Titel: Mein Wille geschehe
Autoren: Susan Sloan
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fragte Joshua
    und sah einem elegant gekleideten Paar nach,
    das durch das Tor schritt. »Weil ich ’n Feuer ma-
    chen könnte?«
    »Na klar kannst du da rein. Gleich morgens,
    wenn du willst, und den ganzen Tag. Du kannst
    bloß nicht dort schlafen, weil sie sauer werden,
    wenn sie’s merken, und dann wäre es für uns alle
    zappendüster. Verstehst du?« Joshua zog mit der
    Schuhspitze einen Riss im Pflaster nach. »Hm«,
    antwortete er. »Dann ist gut«, sagte Big Dug.
    Als Joshua sechs Jahre alt war, hatten Arzte in
    Wisconsin ihn für geistig zurückgeblieben erklärt, woraufhin seine Mutter, die noch vier andere Kinder von drei verschiedenen Männern großziehen
    musste, ihn dem Staat überantwortete. »Ich
    hab’s schon schwer genug«, sagte sie. »Hab kei-
    ne Zeit für Trottel.«
    Der Staat zog Joshua auf, so gut es ging. Man
    bemühte sich, einen anständigen Bürger und gu-
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    ten Christen aus ihm zu machen, brachte ihm bei,
    sich alleine über Wasser zu halten, und entließ
    ihn mit einundzwanzig Jahren ins Leben, wie es
    der Gesetzgeber vorschrieb. Er war selbstständig
    und konnte einfache Anweisungen ausführen.
    Er arbeitete als Tellerwäscher in Restaurants oder wischte in Bürogebäuden die Böden und reinigte
    die Toiletten. Doch wenn ihn keiner dazu anhielt, vergaß er manchmal, zur Arbeit zu gehen, und
    dann regte sich sein Chef auf und feuerte ihn,
    und Joshua musste sich nach einem anderen Re-
    staurant oder Bürohaus umschauen. Wenn er
    nicht genug Geld für eine Unterkunft hatte,
    schlief er auf der Straße. Eines Tages verließ er Wisconsin, ohne es zu merken. Er stieg einfach
    zu einem Mann in den Wagen, der ihm anbot, ihn
    mitzunehmen, und landete in Minnesota. Er
    merkte den Unterschied gar nicht. Schließlich gab es auch in Minnesota Restaurants und Bürohäuser. Als er nach Seattle kam, war Joshua zwei-
    unddreißig Jahre alt.
    Er hatte noch nie im Leben ein für ihn liebevoll
    zubereitetes Essen verspeist, in einem weichen
    Bett geschlafen oder den warmen Körper eines
    anderen Menschen gespürt. Aber er konnte Recht
    und Unrecht unterscheiden, und er wusste, dass
    er nicht im Hill House schlafen durfte.
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    Auf dem kleinen Messingschild an der Tür stand
    der offizielle Name: »Familienzentrum Seattle«.
    Doch seit fast fünfzig Jahren kannte man die In-
    stitution in der Stadt nur als »Hill House«. Die
    dreistöckige prachtvolle Villa aus viktorianischer Zeit hatte als einziges der wenigen Gebäude dieser Art auf dem First Hill den Vormarsch des
    Fortschritts überlebt. Die meisten anderen waren
    den Forderungen der modernen Medizin nach
    funktionaleren Gebäuden aus Stahl und Beton
    zum Opfer gefallen.
    Anfang der fünfziger Jahre war das Gebäude
    ziemlich heruntergekommen. Ein Wohltäter, der
    anonym bleiben wollte, erwarb es, ließ die ver-
    schnörkelte Fassade wieder herrichten und das
    Dach neu decken. Rasen wurde gesät, kleine
    Steinbänke im vorderen Garten aufgestellt und
    im hinteren ein Spielplatz eingerichtet, und das
    Innere das Hauses wurde zu einer modernen Kli-
    nik umgestaltet.
    Hill House befand sich an der Ecke von Boren A-
    venue und Madison Street. Ein hoher schmiedeei-
    serner Zaun und dichte Lorbeerbüsche, die ein
    halbes Jahrhundert alt waren, schützten es vor
    neugierigen Blicken. Zwar hatten weder die Men-
    schen, die hier arbeiteten, noch diejenigen, die es aufsuchten, die Absicht, sich zu verbergen. Doch
    sie hatten die dichte Hecke schätzen gelernt, die 24

    für einen gewissen Abstand zu den Demonstran-
    ten sorgte, von denen sie auf dem Gehsteig re-
    gelmäßig angepöbelt wurden.
    Vorjahren schon hatte sich diese Horde eingefun-
    den. Sie drängelten und schubsten, schrien und
    lärmten und versuchten, Menschen, die ins Hill
    House gingen, einzuschüchtern oder sogar zu
    bedrohen. Im Laufe der Zeit war die Gruppe klei-
    ner geworden, und neue Gesetze verhinderten
    einige ihrer extremeren Aktionen. Doch an ihren
    Zielen hatte sich nichts geändert.
    Im Hill House wurden umfassende Beratungen,
    gynäkologische Untersuchungen, Geburtshilfe
    und Kinderbetreuung angeboten. Doch die Mar-
    schierer – wie die Leute auf dem Gehsteig von
    den Angestellten genannt wurden – interessierten
    sich nur für die ihrer Ansicht nach zutiefst unmoralische Praxis der Schwangerschaftsabbrüche.
    Seit fast zwei Jahrzehnten wurden die Mitarbeiter des Hill House wechselweise angebetet und verdammt, angefleht und geschmäht. »Ich selbst
    würde niemals
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