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Mein Weg zum Herzkind

Mein Weg zum Herzkind

Titel: Mein Weg zum Herzkind
Autoren: Sam Jolig
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startete unseren Ausflug also am Morgen des 4. Juni um neun Uhr. Ich hatte nicht nur meinen Sohn und ein paar Geschenke im Gepäck – ich hatte auch meine Freundin Daniela dabei. Marianne und ich hatten am Telefon beschlossen, den besonderen Augenblick in Bildern festzuhalten, und Daniela ist nicht nur eine Freundin, sie ist auch eine ausgezeichnete Fotografin. Ich vertraute ihr das Geschenk des Moments an und Marianne vertraute mir damit. Als wir in meinem Wagen Platz genommen hatten schaute ich meinem Kind tief in die Augen. Jetzt ging es los, wir fuhren zu der Frau, der er sein Leben verdankte.
Wir fuhren zu seiner leiblichen Mutter. Nach etwa zwei Stunden kamen wir an.
    Direkt vor der Haustür war noch ein Parkplatz frei. Wir hielten an und stiegen aus. Ich griff mein Mitbringsel und nahm meinen Sohn auf den Arm. Mit einem schnellen Blick scannte ich das Mehrfamilienhaus, in dem Tyee gleich seine leibliche Mutter, die Oma und zwei seiner Geschwister kennenlernen sollte. Alle Gardinen hingen ruhig, niemand schien an den Fenstern zu sitzen. Ich war aufgeregt. Wie würde Marianne sein? Würden wir uns so gut verstehen wie am Telefon? Wie würde der Kleine reagieren? Würde er sie irgendwie erkennen? Daniela folgte mir. Sie war mein Schatten an diesem Tag – zurückhaltend, beobachtend und im richtigen Augenblick mit dem Finger am Auslöser. Im dritten Stock ging die Tür auf. Mariannes Mutter, Tyees Oma. Ein freundliches Begrüßen und dann bat sie uns durch den Flur ins Wohnzimmer. Marianne saß auf dem Sofa, im Arm ein Baby. Tyees kleine Schwester Karola. Ein wenig schüchtern begrüßten wir uns. Das Baby dazwischen. Eine flüchtige Umarmung, ein sanftes Lächeln. Das Klicken des Fotoapparates irgendwo im Raum. Tyee war immer noch auf meinem Arm, er klammerte sich an mir fest. Er fremdelte. Nur mit viel Überredungskunst konnte ich ihn neben Marianne und seiner Schwester auf den Boden stellen. Ich blieb dicht neben ihm, berührte ihn, wollte ihm Sicherheit schenken. Das süße Baby interessierte ihn dann doch. Karolas Brabbeln und Quietschen erregte seine Besorgnis, und er sah mich Hilfe suchend an. »Baby hat Hunger … Mama.« Langsam fühlte er sich sicherer in seiner Umgebung.
    Die Oma hatte uns frischen Kaffee auf den Tisch gestellt und
ein Teller mit Keksen lockte Tyees Aufmerksamkeit an. Mindestens genauso verschüchtert wie mein Sohn kam sein großer Bruder (damals neun Jahre alt) nach einiger Zeit aus seinem Zimmer. Neugierig war er auf den kleinen Mann, beäugte ihn und mich, setzte ein süßes Lächeln auf und fing an zu erzählen – von der Schule, von seinen Geschwistern, von seinem Leben. Geschichten aus Kinderaugen. Wir amüsierten uns. Stück für Stück fühlten wir uns alle wohler. Langsam bekam die Situation etwas Selbstverständliches, etwas Normales.
    Stunden vergingen wie im Flug. Wir lachten und tauschten uns interessiert aus. Tyee rückte ab und zu mal dichter an Marianne ran und bestaunte immer wieder das Baby. Beim Abschied traute sich Tyee sogar seine leibliche Mama einmal ganz fest zu drücken. Er schlang seine kleinen Ärmchen um ihren Hals, während sie vor ihm hockte. Er warf mir einen flüchtigen Blick dabei zu und strahlte nach der Umarmung wie ein Honigkuchenpferd. Eine kräftige Umarmung schenkten Marianne und ich uns auch. Ich war sehr glücklich, diesen Besuch gemacht zu haben, und ich spürte wieder diese unendliche Dankbarkeit über das große Geschenk, das Marianne mir gemacht hatte. Ohne sie wäre ich nicht Mutter meines Sohnes.

    Natürlich sollte es nicht bei einem Besuch bleiben. Wir beschlossen, weiter zu telefonieren und möglichst bald ein Wiedersehen anzuberaumen. Diesmal aber bei uns zuhause. Marianne sollte sehen, wie Tyee lebt. Sie sollte seine große Schwester kennenlernen und sich ein Bild von seinem Platz in unserer Familie machen. Außerdem wollten wir unsere Geschichte aufschreiben. Andere Menschen teilhaben lassen an unserem Weg.
Mut machen für ein Miteinander. Die Wahrheit zu leben und sich nicht verstecken und schämen zu müssen, weil man nicht den »klassischen Fall« von Familie lebt, sein Kind zur Adoption freigegeben hatte oder als unfruchtbare Frau sich wünschte Mutter zu sein. Wir brauchten Zeit miteinander. Wir suchten die Nähe und wollten den anderen verstehen lernen, in sein Herz schauen. Aus einem Treffen wurde ein zweites, dann ein drittes und so weiter.

    Ich erinnere mich an einen sehr lustigen Ausflug unserer großen, bunten Familie.
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