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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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dass die Okkupanten dieselbe Sprache sprechen. Ihnen kommt unser Schweigen, unsere sklavische Demut zupass. Nur dass solche Gesellschaften in der modernen Welt nicht überleben. Sie werden geschluckt von denen, die aktiver und mit mehr Leidenschaft bei der Sache sind.
    Eben deshalb besteht die Hauptaufgabe der nationalen Elite heute darin, das Land und die Gesellschaft wachzurütteln, ihr kreatives Potenzial und das Gefühl, dass jeder selbst für sein Schicksal verantwortlich ist, zu wecken.
    Gerade hier sehe ich mich im krassen Widerspruch zu Putin, zur Machtbürokratie. Diese Leute sind bereit, sich die Gunst der Bevölkerung mit kleinen Geschenken zu erkaufen, Spektakel für die Menschen zu veranstalten und im Ausland wie im Inland nach Feinden zu suchen, aber sie stellen sich kategorisch, mit aller Macht, gegen ein Erwachen bürgerlichen Engagements, gegen die Versuche der Menschen, ihre Probleme eigenverantwortlich in Angriff zu nehmen, sich zu organisieren, gemeinsam ihre Rechte zu verteidigen und wirklich an den Belangen des Staates, des Landes mitzuwirken.
    Ich denke nicht, dass alle Vertreter der Machtbürokratie, Putin eingeschlossen, dieselben Motive verfolgen oder gar eine einheitliche Position vertreten. Wenn wir jedoch einen allgemeinen Trend, wie er sich unter dem Strich ergibt, beschreiben wollen, geht es darum, dass sie nicht an ihr Volk glauben, dass sie die modernen Methoden der staatlichen Verwaltung weder verstehen noch anwenden können und dass sie sich davor fürchten – und es auch gar nicht wollen –, das Ruder an bereitwilligere Leute, und sei es auch aus den eigenen Reihen, zu übergeben.
    Das ist schlecht und sehr gefährlich.
    Gerade das neuerliche »Einfrieren« des Landes, das sich schon ein Jahrzehnt hinzieht, die bewussten Maßnahmen zur Banalisierung der Elite und der staatlichen Institutionen, die konsequente Zerschlagung legaler Formen gesellschaftlichen Engagements und gesellschaftlicher Selbstorganisation – das sind Putins wesentliche politische Fehler, wenn man ihn als Führer des Landes und nicht als Vertreter der Interessen eines kleinen Kreises der Machtbürokratie betrachten will. Das ist es, was diejenigen ändern müssen, die für Russland eine bessere Zukunft wollen.
    Was meine Zukunft anbelangt, so spielt die sich vorerst noch im Gefängnis ab. Unerbetene Ratschläge zu erteilen, daran hindert mich das Gefängnis im Übrigen kaum. Genau das habe ich auch künftig vor.
    In die Wirtschaft zurückzukehren, reizt mich nicht. Um das, was ich früher schon erreicht habe, noch einmal zu machen? Wozu?
    Premierminister werden? Oder Präsident? Da muss man schon über die Maßen machtverliebt sein, um all das anzustreben, was damit zusammenhängt. Meine Liebe zur Macht ist nicht so groß.
    Wenn Russland irgendwann erneut den Weg einer demokratischen Entwicklung einschlägt und meine Gesundheit dann noch mitspielt, will ich allerdings versuchen, meinem Land bei der Etablierung eines Normsetzungsverfahrens nützlich zu sein. Es waren schließlich gerade die hoch entwickelten Regeln und Vorschriften, die zu den größten Stärken der Unternehmen gehörten, die ich führen durfte. Auch die Gesetze, die wir ausarbeiten und in die Staatsduma einbringen konnten, wurden selbst nach der Zerschlagung von Yukos von niemandem wieder abgeschafft.
    Auf diesen Teil meiner Arbeit bin ich wirklich stolz. Wir waren der Zeit ein ganzes Stück voraus. Und selbst im Gefängnis bleibe ich auf der Höhe.
    Das Wichtigste ist jedoch, den Menschen, mit denen man zusammenarbeitet, vertrauen zu können. Mich umzuschauen, während ich vorwärts gehe, aus Angst, man könnte mich in eine Falle laufen lassen, bin ich nicht gewöhnt. Ich werde daher mit niemandem zusammenarbeiten, dem ich nicht vertraue. Für die Politik ist das allerdings eine unabdingbare Voraussetzung.
    Also werde ich wahrscheinlich auch weiterhin unerbetene Ratschläge erteilen.
    204 Bezieht sich auf die Theorie der Langen Wellen nach Nikolai Kondratjew, eine Theorie der zyklischen Wirtschaftsentwicklung. Die dritte Welle beruht auf Innovationen in den Bereichen Elektrizität, chemische Industrie und Automobilbau. (Anm. d. Ü.)
    205 Am 6. Mai 2012, dem Tag vor der Amtseinführung von Präsident Wladimir Putin, fanden im Zentrum Moskaus erneut Massenproteste statt. (Anm. d. Ü.)
    206 Nach der marxistischen Theorie sind Kompradoren (portugiesisch für Käufer) Vertreter oder Vermittler ausländischer Kapitalinteressen.

MICHAIL
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