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Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis

Titel: Mein Weg - Ein politisches Bekenntnis
Autoren: Michail Chodorkowski
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Entschädigung und die zweifelhafte Sicherheit, fortan in Ruhe gelassen zu werden. Oder aber ich hätte selbst den Kopf in die Schlinge stecken können, in der Hoffnung, dass die Gegenseite sich damit zufriedengeben würde. Was danach käme, war reine Glückssache: Wenn sie mich umbrächten, dann war es das eben; aber wenn nicht, dann würden sie mich auch nicht lange in Haft behalten – ich wäre schließlich ein Splitter in ihrem Fleisch, der mit der Zeit nur noch mehr eitern würde. Aber dann gäbe es auch keine Geiseln mehr.
    Mein Fehler war, dass ich in dieser Rechnung die »emotionale Komponente« bei Putin nicht bedachte. Woher diese Komponente kam, ist mir ein Rätsel. Wann er beschlossen hatte, »mit Munition nicht zu sparen«, weiß ich nicht. Aber ab diesem Moment trat das pragmatische Kalkül immer mehr in den Hintergrund.
    Offensichtlich wurde das im November 2003, als Putin nach meiner Verhaftung dazu aufrief, die »Hysterie einzustellen«. Seither ist mein Weg klar: Geduld.
    Uns beiden fällt es schwer zu verhandeln – er vertraut mir nicht, und ich vertraue ihm nicht. Und wie sollte es auch anders sein: Er selber hat aus mir ein Symbol gemacht. Vielleicht haben meine Gegenspieler erwartet, ich würde »durchdrehen«? Unwahrscheinlich. Alles in allem geht es wohl wirklich am ehesten um Emotionen.
    Nun zu den »Haftbedingungen«. Das Erste und Wichtigste, was sich verändert hat, bin ich selbst. Da ich mir schon vor fünf Jahren verboten habe, über eine Entlassung nachzudenken, und da ich mich an diesen Gedanken gewöhnt habe, macht mich inzwischen nichts mehr nervös. Mein Unternehmen gibt es nicht mehr. Kein Land wird irgendwen von meinen Leuten ausliefern, das ist inzwischen klar. Und Arbeit habe ich: Ich schreibe »Gemeinheiten«. Mit den Unbequemlichkeiten des Alltags (sofern man sie so nennen kann) habe ich mich abgefunden.
    Auch was das Verhältnis zu mir angeht, ist es leichter geworden. Nicht so sehr, weil man mir mit mehr Milde begegnen würde, sondern aus einem nachvollziehbaren, ganz gewöhnlichen Grund: Man kennt mich. Man kennt mich als ruhigen Menschen, der zu einer Zuspitzung von Konflikten ebenso bereit ist wie zu Kompromissen, und als jemanden, der »draußen« Unterstützung hat. Letzteres ist sehr wichtig. Niemand will sich unnötige Probleme einhandeln. Wenn es einen entsprechenden Befehl gibt, wird man mich unter Druck setzen, aber auch nur dann.
    Alles andere interessiert hier kaum jemanden: Ob du schuldig bist oder unschuldig … Solange du kein Psychopath bist, ist alles bestens. Die ewige russische Knastrealität.
    Zu meiner Sicht auf die politischen Perspektiven: Wie schon erwähnt, werde ich demnächst wohl wieder einmal einen Artikel schreiben – ob ich ihn veröffentliche, weiß ich allerdings noch nicht. Kurz gesagt, geht es um folgende These: Wir stehen am Rand einer äußerst unerfreulichen Entwicklung. Im Land hat sich eine sehr starke Machtkorporation herausgebildet, die sich ihrer Möglichkeiten vollauf bewusst ist. Zur Zeit der Sowjetunion musste diese Korporation nicht nur mit eigens provozierten internen Konflikten zurechtkommen, sondern unterstand außerdem der konsequenten Kontrolle der Parteibürokratie. Zudem wurde die Parteiideologie sehr stark auf die Machtstrukturen projiziert und diente als zusätzliche Sicherheitsbarriere.
    Heute fehlen diese beiden Barrieren. Das einzige Ziel der herrschenden Bürokratie sind Posten und Geld – was wechselseitig konvertierbar ist. Bisher bestanden noch genügend innere Widersprüche, zudem machte sich das Fehlen einer globalen Sichtweise (also einer Ideologie) bemerkbar. Inzwischen aber ist die Lage dabei, sich zu verändern. Die krampfhafte Aufteilung des »Kuchens« untergräbt allmählich die wirtschaftliche Stabilität des Landes, und die Staatsmacht sieht sich gezwungen, die Expansion der Silowiki einzudämmen. Das nehmen diese als Druck, als Bedrohung wahr. Es kommt zu einer Konsolidierung, bisher in Form von Sabotage, aber alles kann sich sehr schnell ändern. Insbesondere, wenn die passende Ideologie dazukommt.
    Putin wird von manchen immer noch gefürchtet, aber nicht mehr respektiert. Dass er sich vom streng autoritären Modell abgewandt hat, wurde ihm als Verrat ausgelegt. Obwohl er, hätte er sich anders entschieden, schnell »untergebuttert« worden wäre. Mit der Abschaffung der gesellschaftlichen Freiheiten wäre von seiner Bedeutung als Politiker, der die Eliten »bezaubern« kann, nichts mehr übrig
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