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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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ihr in ihrer Mutterrolle dieser kleine Fehler unterlaufen war, sprang auf und warf dabei ihre Tasche um. Eine Gummiente, ein Plastikauto, dem ein Rad fehlte, ein mit Kuli bemaltes Kinderüberraschungsei und eine Dose Gleitgel kullerten auf den Steinfußboden meiner Küche.
    Die Dose mit dem Gleitgel war schmal, rosa und mit Glitzersternen geschmückt; sie passte gut in die Spielzeugwelt ihrer Tasche. Als Leni sah, dass ich das Glitzerobjekt bemerkt hatte, tat sie so, als sei es das Normalste der Welt; wie nebensächlich sammelte sie alles – das Gleitgel demonstrativ als Letztes – auf und steckte es zurück in ihre Tasche. Wir hatten, seitdem wir erwachsen geworden waren, die stillschweigende Abmachung, Stillschweigen zu bewahren über Dinge, die etwas über uns selbst aussagen konnten. Also ersparte ich mir den Kommentar.
    Doch als sie im Flur stand und im Begriff war, meine Wohnung zu verlassen, rutschte es mir heraus:
    – Ihr treibt es wohl wild, was?
    Ich grinste, und es tat gut, wieder fünfzehn zu sein und sich so offensichtlich für das Sexualleben seiner Schwester interessieren zu dürfen.
    – Was für eine dämliche Frage, Stella!
    Leni war rot angelaufen, und ich wusste, dass sie sich verkrampfte und insgeheim die Hände zu Fäusten ballte.
    – Wieso? Das interessiert mich einfach!
    – Was interessiert dich? Ob und wie ich mit meinem Mann schlafe?
    – Ja, warum nicht? Ich meine, du bist meine Schwester, früher habe ich dich so was fragen dürfen.
    – Früher ist aber nicht jetzt, sagte sie und rannte hinaus. Aus dem Treppenhaus hörte ich sie rufen:
    – Bis Samstag!
    Ich schloss die Tür hinter ihr zu, lehnte mich daran und fing an zu lachen. Die Situation war so absurd, und gleichzeitig erschrak ich über mein eigenes Gelächter; ich erschrak, weil ich wusste, dass der Bruch mit gewohnten Mustern einzig und allein mit dem Früher zu tun hatte, und dieses Früher hieß Ivo.
    Tulja kündigte an, sie mache eine Jahrhundertfeier und jeder, der ihrer Einladung nicht folge, gehöre nicht mehr zu ihrem Familienkreis. Ich rief Vater an, Vater rief Leni an, Leni rief mich an; Tulja rief Vater an, Vater beklagte sich über Tuljas einnehmende, bemutternde Art, ich tröstete Vater, Leni rief mich an und schimpfte über Vater und dass er sich nicht schonen würde. Tulja traf mit Mutter Absprachen. Mutter rief wieder mich an, schimpfte über Lenis Taktlosigkeit und äußerte Befürchtungen, sie würde Ivos Rückkehr verderben. Und so ging das die ganze aufgeregte Woche lang.
    Ivo hatte sich in der Niendorfer Strandscheune einquartiert und genoss Tuljas Zuwendung. Er selbst rief niemanden von uns an und nahm es hin, dass Tulja eine Willkommensfeier samt Wiedervereinigung der Familie plante.
    Mark hatte gerade einen Vertrag für einen neuen Dokumentarfilm unterschrieben und war damit beschäftigt, seine Reise zu den Drehorten auf Zypern zu organisieren. Theo und ich blieben meist allein.
    Die Verabredung für die Feier meiner Kollegin hatte ich natürlich verpasst, alle in der Redaktion schienen es mir übelzunehmen. Leo, unser Chefredakteur, nahm es mir doppelt übel, weil er es auf Nadia, auf deren Party ich gefehlt hatte, abgesehen hatte und er unbedingt auf meine Unterstützung samt Verkuppelungsversuch gebaut hatte. Ich arbeitete an einem Artikel über eine Kunstbiennale, die »modern, bahnbrechend und wegweisend« sein sollte und die in Wirklichkeit nur altbacken, bieder und völlig konservativ war. Ich bat um die Verschiebung der Abgabefrist, was die allgemeine Stimmung nicht unbedingt verbesserte.
    Zu meinem Beruf gehörte es, in gewissen Momenten zu lügen. Dinge, die völlig sinnentleert waren, als »modern, bahnbrechend und wegweisend« darzustellen und Kunststücke, Künstlerinterviews, Filmpremieren und Buchpräsentationen – völlig dekadent, absolut eitel und bar jeglicher Ideen – als wichtig anzupreisen. Aber nun erschien mir das berufliche Lügen völlig unmöglich.
    Theo schien gereizt, irgendetwas beschäftigte ihn, und er jammerte und nörgelte. Die Möhre blieb weiterhin im Korb liegen, und er ließ Mark und mich einen Schwur ablegen, dass wir sie weder wegwerfen noch essen würden. Die Frage, worum es ihm bei der Möhre ging, war zu viel für mein wundes Hirn, und ich tat sie beiseite, um mich später, nach dem Samstag, damit zu beschäftigen.
    – Ich fliege schon am Freitag nach Nikosia, sagte Mark und machte seinen Jeansreißverschluss auf. Ich kam gerade aus der Dusche, in seinen
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