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Mein Sanfter Zwilling

Mein Sanfter Zwilling

Titel: Mein Sanfter Zwilling
Autoren: Nino Haratischwili
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ich sie brauchte: Sie war für mich eine Bestätigung für alles, was war, worüber man aber nie sprach, was alle wussten und woran sich keiner in unserer Familie erinnern wollte, das sie aber, zwar anders als Ivo und ich indirekt, jedoch ebenfalls miterlebt hatte. Wodurch sie genauso beschädigt worden war. Was sie genauso versuchte, hinter sich zu lassen. Und sie war die Bestätigung für die einzige klare Aussage meines Lebens: Leni war meine Schwester, und bei ihr musste ich kein eigentlich hinzufügen.
    Nachdem sie ihren dritten Sohn bekommen und die Hoffnung auf ein Mädchen aufgegeben hatte, dem sie rosa Rüschenkleider kaufen und niedliche blonde Zöpfe flechten konnte, wurde es jedoch für mich schwierig, die fast unerträgliche Biederkeit, die sie ausstrahlte, ihre Schönheit, die immer provinzieller wurde und die darin mündete, dass sie zunahm und sich die Haare mit Henna färbte, zu ertragen. Ebenso die Tatsache, dass sie einen Golf fuhr, weil sie Angst hatte, in ihrer Vorstadtidylle mit einem größeren Modell provozierend zu wirken.
    – Tulja lädt uns ein für Samstag. Wir alle sollen kommen. Die Wiederkehr des verlorenen Sohnes feiern. Was sagt man dazu?, meinte sie spitz und setzte sich auf die Couch, um im nächsten Augenblick wieder hochzuspringen und in meinen Küchenschränken nach einem gesunden Tee zu stöbern. Eine ihrer Eigenschaften, mit der ich in den letzten Jahren immer weniger klarkam, war Lenis dauerfrustrierter Sarkasmus.
    – Er war schon hier.
    – Was? Du hast ihn schon gesehen? Das Phantom der Oper ist wieder bei dir aufgetaucht? Einfach zauberhaft. Und was sagt der Herr? Wie stehen seine Aktien?
    – Er sieht gut aus. Er braucht eine kleine Pause.
    – Ich bin überrascht, nein wirklich. Und dass ihn Gesi einfach so zu uns fahren lässt!
    Leni spielte gern die verlassene Tochter und vergaß dabei, dass sie diejenige war, die mit elf Jahren lauthals dagegen protestiert hatte, nach Newark zu ziehen. Sie wies Mutter die Rolle der Schuldigen zu und war froh darüber, dass sie Mutter zum Sündenbock für alles ausrufen konnte, was nicht richtig lief. Sie hatte so gut wie keinen Kontakt mit ihr und weigerte sich von Anfang an, mit ihren Kindern bei ihr Urlaub zu machen.
    – Ist es ein Verbrechen, dass Gesi ihn gelegentlich sieht?
    – Und schon wieder fängst du damit an.
    – Wie meinst du das?
    – Na ja, du nimmst ihn schon wieder in Schutz.
    – Ich nehme ihn nicht in Schutz. Es ist einfach so.
    Sie sah mich misstrauisch an und suchte weiter in meinen Schränken. Mir fiel auf, dass dieser Anblick eigentlich sehr ungewöhnlich war – Leni allein, ohne Kinder. Ich versuchte mich zu erinnern, wann dies das letzte Mal der Fall gewesen war, und kam nicht darauf. Leni hatte von Anfang an ihre Mutterrolle demonstrativ angenommen und damit der ganzen Welt klargemacht, dass eine Frau, die von der eigenen Mutter verlassen worden war, selbst keine schlechte Mutter sein musste. Leni meisterte ihr Familienleben in Perfektion – und das sollten gefälligst alle erfahren.
    Sie fand einen Tee, der ihren biologischen Ansprüchen genügte, und bereitete ohne mich zu fragen auch mir eine Tasse zu. Auch das zeichnete Leni aus: Sie wusste immer, was für die anderen gut und was schlecht war.
    – Ich bin froh, dass er wieder da ist.
    Ich bemühte mich, wie schon tausendmal, um eine gewisse Ehrlichkeit ihr gegenüber.
    – Ich zweifele daran, ob du weißt, was für dich gut ist und was nicht. Du kennst ihn ja, solltest du jedenfalls. Also zieh selbst die notwendigen Schlussfolgerungen aus seinem Besuch.
    – Was soll das jetzt bitte heißen?
    – Es war für uns alle das Beste, dass er nach Amerika gegangen ist. Es war für uns alle das Beste, dass er weggegangen ist. Und weggeblieben ist. Erst danach hast du dein Leben in den Griff bekommen. Erst als er weg war, ist Vater ruhiger geworden. Erst als Ivo weg war, wurde sogar Tulja ausgeglichener. Es war einfach besser so. Er hat uns kein Glück gebracht!
    Leni hatte nie aufgehört, in Ivo die Wurzel allen Übels zu sehen, so wie sie nie aufgehört hatte, Mutter für etwas die Schuld zu geben, wofür sie am allerwenigsten Schuld trug. Aber Leni war stur, und nichts schien sie vom Gegenteil überzeugen zu können, sobald sie sich einmal in ihrer Meinung festgefahren hatte.
    Ich sah ihr Gesicht an. Ihr Gesicht, das einmal sehr hübsch gewesen war, hellblaue Augen und volle Lippen, die so viele zum Küssen verleitet hatten, mit ihrem sonnengebräunten
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