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Mein Name war Judas

Mein Name war Judas

Titel: Mein Name war Judas
Autoren: C. K. Stead
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entlocken, in welcher Rolle er sich sah, aber ich griff das Thema nicht wieder auf. Es war einer jener Momente, in denen mir immer klarer wurde, dass unser gemeinsames Unternehmen gescheitert war – oder ich zumindest nicht mehr daran glaubte.
    Inzwischen enthält die Geschichte von seiner Geburt ein weiteres Element, von dem ich erst vor wenigen Jahren hörte. Ein Prediger auf Missionsreise in Sidon erzählte mir davon, und erst kürzlich hörte ich einen zweiten davon sprechen. Demnach sei Maria, als sie mit Jesus schwanger war und auf ihrem Esel nach Bethlehem ritt, noch Jungfrau gewesen. Jesus sei nicht von Josef, dem Zimmermann und Vater von Jesu jüngeren Geschwistern, gezeugt worden, sondern von Gott selbst, von Seinem Heiligen Geist.
    Gut, dass ich in unserer gemeinsamen Zeit noch nichts davon gehört hatte und nicht genötigt wurde, das zu glauben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir gelungen wäre, höflich zu bleiben.
    Doch all das lag noch in ferner Zukunft.
    Noch vergnügten wir uns mit Kinderspielen und ließen uns von Andreas unterrichten. Was immer wir taten und dachten – stets hing der Gott Israels wie eine dunkle Wolke über uns. In unseren Häusern, auf der Straße und bei den Gesprächen, die Arm und Reich miteinander führten. Unterschiedslos und unentrinnbar. Er begegnete uns in den Geschichten aus der Vergangenheit und hatte auch in der Gegenwart nichts von seinem Schrecken verloren. Er war in der Luft, im Wind, in Winterstürmen und in der unerbittlichen Sommerhitze. Eine allgegenwärtige, rächende Macht, die leicht zu erzürnen war, grausam strafte und vollmundige Heilsversprechungen machte, die nie eingelöst wurden. Diese Macht duldete keine Sünde und keine Respektlosigkeit. Den nötigen Respekt brachten wir auf, aber die Sünde … Sie trat uns nie von Angesicht zu Angesicht gegenüber, und doch war sie immer präsent. Auch wenn wir sie nicht sehen konnten, lauerte sie hinter der nächsten Ecke – unsere Sünde, seine und meine. Sie gehörte zu uns wie unsere Namen, Jesus und Judas, und es gab kein Entrinnen.
    Wir lebten in ewiger Furcht vor ihr und ihren Folgen.
    Schakale bellen
    in der Nacht.
    Sie bringen
    Kindheit zurück,
    als jeder Schatten
    einen Schatten warf.
    In jedem Schatten
    ein Geist. Die Wüste
    belebt von Toten.
    Furcht herrscht
    im Heim, verlangt Gebet
    und Strafe. Zwei
    kleine Jungen,
    verschreckt im Bett,
    erflehen Vergebung,
    nicht wissend, wofür,
    nur der diffusen
    Schuld gewiss.

Kapitel 3
    In meiner Kindheit gab es wenig, was ich lieber tat, als Jesus und seine Familie zu besuchen. Ich hatte keine Geschwister, und obwohl ich recht schamhaft und schüchtern war, fand ich das vertraute Beisammensein schön, auch die Streitereien und Streiche. Ich lachte, wenn jemand furzte und alle behaupteten, sie seien es nicht gewesen, während sie so taten, als brächte der Gestank sie um. Ich war ein verwöhntes Einzelkind, und das Leben in Gemeinschaft tat mir gut.
    Maria sorgte für feste Gebets- und Andachtszeiten, und Josef befolgte sie auf seine stille Art. Er schien aber nicht mit dem Herzen dabei zu sein, sondern die Rituale nur zu absolvieren, um Maria einen Gefallen zu tun. Damals gab es in Nazareth keine richtige Synagoge, so gingen wir am Sabbat in das Haus des Rabbis. Dass Jesus »spiritueller« gewesen wäre als wir anderen, ist mir nicht aufgefallen. Ganz anders sein Cousin Johannes. Wenn wir beteten, kniff er die Augen heftiger zusammen als alle anderen, atmete schwer, knirschte mit den Backenzähnen, murmelte die Texte halblaut mit und nickte so inbrünstig, dass Adern und Sehnen seines Halses hervortraten und ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Als ich Jesus einmal darauf ansprach, lachte er und sagte etwas, das ich ihn später noch oft sagen hörte, als Johannes und er beide längst Propheten und religiöse Anführer waren: »Armer Johannes! Für ihn ist alles schwere Arbeit.« Schon als Kind fand ich das unpassend und überheblich. Wie Jesu Gelächter über die Diogenes-Geschichte. Es war mir peinlich und gab mir das Gefühl, ihm moralisch überlegen zu sein. Auch als Erwachsener, der Johannes als Prediger ernst nehmen sollte, hatte ich noch Probleme damit.
    Meine Mutter bezweifelte, ob Jesus der richtige Umgang für mich war. Hätten wir nicht denselben Lehrer gehabt und hätte Andreas sich nicht immer so lobend über ihn geäußert, hätte sie mir den Umgang mit ihm wohl rundheraus verboten. Anfangs versuchte sie mich davon zu überzeugen,
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