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Mein Leben Als Suchmaschine

Mein Leben Als Suchmaschine

Titel: Mein Leben Als Suchmaschine
Autoren: Horst Evers
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verurteilte das. Es verbitterte ihn, daß es immer weniger Zeiten gab, an denen man nicht von ihm verlangte, daß er irgendwas kauft. »Irgendwann«, prophezeite er düster, »irgendwann werden sie die Kaufhäuser an den Adventssamstagen auch noch bis 19.00 Uhr aufmachen. Dann haben sie es geschafft. Dann ist gar keine Besinnung mehr. Dann findet das ganze Weihnachten nur noch im Kaufhaus statt!«
    Mein Großvater war ein notorischer Schwarzmaler. Das wußten alle in der Familie. Und eigentlich auch alle im ganzen Landkreis.
    Das Kaufhaus Seitz war das größte Kaufhaus in ganz Diepholz. Das wäre es allerdings auch gewesen, wenn es kleiner gewesen wäre, denn es war das einzige Kaufhaus in Diepholz. Es hatte zwei Etagen und dazwischen eine Rolltreppe. 1972 die einzige Rolltreppe in ganz Diepholz und damit eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Mein Großvater verurteilte auch diese Rolltreppe:
    »Irgendwann werden die Menschen gar nicht mehr selber gehen. Und dann wird die Evolution dafür sorgen, daß sich Füße und Beine wieder zurückentwickeln. Und weil auch keiner mehr arbeitet, werden sich Hände und Arme auch zurückentwickeln. Dann bestehen alle Menschen nur noch aus Kopf und dickem Bauch und rollen den ganzen Tag durch die Kaufhäuser!«
    Am dritten Adventssamstag kam der Weihnachtsmann ins Kaufhaus Seitz. Das war eine große Geschichte. Dem konnte man nämlich dann direkt seine Wünsche sagen. Nur drei Wünsche. Die wichtigsten drei. Der Weihnachtsmann mochte es gar nicht, wenn man ihm mehr als drei Wünsche sagte. Das wußten alle Kinder von Herrn Seitz, dem Inhaber des Kaufhauses. Und der war sehr, sehr gut mit dem Weihnachtsmann befreundet. Zumindest sagte das Herr Seitz immer. Wir bewunderten ihn für diese Freundschaft.
    Seit Wochen hatte ich meine drei Wünsche geübt, sie mir immer wieder leise vorgesprochen, damit ich nur nichts falsch machte, wenn ich beim Weihnachtsmann auf dem Schoß saß.
    Ein Cowboy-und-Indianer-Fort, eine elektrische Rolltreppe für unser Haus und als dritten Wunsch, daß mein Großvater nichts von der Rolltreppe merkte.
    Punkt 14.30 Uhr sollte der Weihnachtsmann seinen geschmückten Thron im ersten Stock besteigen. Aber schon kurz nach eins stand ich mit Hunderten anderer Kinder davor und wartete. Immer wieder murmelte ich meine drei Wünsche wie ein Mantra vor mich hin. Und alle Kinder um mich herum murmelten auch ihre Wünsche. Um die 300 Kinder standen murmelnd im ersten Stock des Kaufhauses Seitz. Eine großartige Geräuschkulisse, eigentlich wie in einem mittelalterlichen Kloster, nur daß wir statt Rosenkränzen von Lego, Barbies und Spielzeugpanzern murmelten. Dann wurde es endlich 14.30 Uhr. Der Weihnachtsmann kam mit großem Pompom die Rolltreppe hochgefahren, brüllte ununterbrochen: »Hohoho, Kinder, hohoho…«, und 300 Kinder schrien wie am Spieß. Die Beatles wären vor Neid erblaßt. Der Weihnachtsmann bahnte sich den Weg zu seinem Thron, dröhnte ununterbrochen mit knallrotem Kopf: »Hohohoooo…«, bis er den Sessel erreicht hatte. Dort jedoch hielt er plötzlich inne, rief irgendetwas, was wegen des Geschreis von uns Kindern nicht zu verstehen war, ließ sich erstaunlich unelegant in den Thron fallen, versuchte wohl noch mal, was zu rufen, und sackte dann in sich zusammen. Es dauerte ungefähr eine Minute, bis Kinder, Eltern und Herr Seitz realisiert hatten, was geschehen war. Der Weihnachtsmann war tot.
    Einfach so. Die Aufregung war wohl doch etwas zu viel gewesen. Er war vor ihren Augen gestorben.
    Es ist nie schön, wenn ein Weihnachtsmann stirbt, aber direkt vor den Augen von 300 drei- bis siebenjährigen Kindern ist es schon recht nahe an einer respektablen Katastrophe.
    Innerhalb weniger Augenblicke wich der Lärm einer völligen Stille. Diese dauerte gefühlte zwei bis drei Monate an. Tatsächlich waren es wohl höchstens fünf Sekunden. Dann aber rissen sich die ersten Kinder am Riemen und heulten und schrien in altersgerechter Weise, wie es dem Anlaß angemessen war. Einige schimpften, weil jetzt alle ihr Mühe vergebens gewesen war. Markus rannte vor und brüllte dem toten Weihnachtsmann vorsichtshalber trotzdem noch seine Wünsche ins Ohr.
    Man kann ja nie wissen.
    Herr Seitz stand fassungs- und regungslos inmitten des Tumults. Dabei wartete auf ihn noch ein weiterer Schicksalsschlag. Wie sich später herausstellte, war an diesem Wochenende nämlich nicht nur sein sehr, sehr guter Freund, der Weihnachtsmann, gestorben, sondern
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