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Mein irisches Tagebuch

Mein irisches Tagebuch

Titel: Mein irisches Tagebuch
Autoren: Ralph Giordano
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höher, beide nahe am Ufer errichtet; dazu über ein weites Areal hin klagende Ruinen - und jetzt, nachdem der Morgendunst verflogen ist, der freie Blick über den windbewegten Shannon weit nach Westen.
    Der Fluß hatte einst das im 6. Jahrhundert vom Heiligen Ciaran gegründete Kloster mit Lebensmitteln und Rohstoffen versorgt - mit frischem Wasser, Fischen aller Art, Reet für die Dächer der Hütten.
    Clonmacnoise, das war einmal Irlands berühmteste geistliche Stätte. Hier haben Hunderte von Mönchen in einer stadtähnlichen Siedlung wertvolle Handschriften geliefert. Über einen Zeitraum von mehr als 700 Jahren wurde das Kloster erst immer wieder zerstört, dann buchstäblich ausgelöscht und in seinem derzeitigen Zustand hinterlassen. 834 kamen die Wikinger; 1197, erste Besetzung Irlands durch England, plündernde Normannen; 1572 marodierende Truppen Heinrichs VIII., der sich dann auch »König von Irland« nannte; und schließlich Cromwells Soldateska, die ein Jahrhundert später das Grauen der vergangenen Heimsuchungen zu einem bloßen Vorspiel degradierte.
    So wurden das Kloster Clonmacnoise und seine Geschichten nicht nur ein großes Beispiel ungestümer irischer Glaubenskraft, sondern auch zum Sinnbild jenes schlimmen Mottos, das für die Iren bis hinein in unser Jahrhundert gelten wird: »Wer vom Meer kommt, will uns berauben.«
    Jetzt allerdings, an diesem Morgen, scheint hier der Frieden der ganzen Welt versammelt zu sein. Der Regen hat aufgehört, um mich herum weiden Schafe und Kühe.
    Ich gehe noch einmal an das Ufer des Shannon. Aus der Nähe wirkt O’Rourke’s Tower wie dunkelgebeizt von der Nässe der letzten Tage.
    Von diesen Türmen hat es Hunderte in ganz Irland gegeben, die meisten davon in Küstengegenden zur rechtzeitigen Warnung vor plötzlichen Überfällen errichtet, vor allem der Wikinger, eine Plage, die im 8. Jahrhundert begann und bis ins 10. andauerte.
    Diese Rundtürme, von denen einige erhalten geblieben sind, wurden alle nach dem gleichen System mit einem gemeinsamen Merkmal erbaut: dem hoch über dem Boden befindlichen Eingang. Der konnte nur erreicht werden über eine Leiter, die leicht hochzuziehen war, ehe das Loch dann von innen durch große Steine blockiert wurde. Mit Wasser und Lebensmitteln für eine lange Belagerung versehen, war es in der damals noch pulver- und kanonenlosen Zeit eine geniale Defensiv- und Fluchtkonstruktion.
    Sie überließ den Angreifern zwar Häuser und Vieh und war dazu kalt und eng, sicherte aber immerhin das Leben. Dreihundertjahre lang lugten von den Spitzen solcher Rundtürme aus Späher nach den Nordmännern, deren Raubzüge sich keineswegs auf die küstennahen Gebiete beschränkte. Wie auf dem Kontinent, waren die Drachenschiffe der Wikinger auch hier die Flüsse hinaufgerudert.
    Der Steinkörper des O’Rourke’s Tower ist von hellen Flechten und schwärenden Auswüchsen bedeckt, der Eingang hoch über mir. In den Bäumen um den Turm zischt der Wind, und die Kreuze, dieses Meer von Kreuzen, starren einen an, als wenn sie Augen hätten.
    Wann ist das Dach der Kathedrale von Clonmacnoise eingestürzt? Droben ein Loch im Gemäuer, Zweige, ein Nest, aus dem es jämmerlich krächzt - Hunger, Hunger! Da kommt auch schon die Krähenmutter, aber nach ihrem Abflug tönen die Schreie der Jungen noch schriller.
    »O Lord have mercy«, lese ich auf einer Grabplatte.
    Ach, wenn doch nur.
    Auf der N 8 von Süden über eine Höhe kommend, taucht ein mächtiges Bauwerk auf, eine Ansammlung grauer, vorsätzlich auf einen Felsen gesetzter Mauermassen. Je näher man kommt, desto höher wächst der verwitterte Koloß vor einem auf - the Rock of Cashel.
    Hier sind die keltischen Herrscher von Munster getauft worden.
    Als der Heilige Patrick hier um das Jahr 450 sein Weihwasser über das gebeugte Haupt des Königs Aengus sprühte und Cashel zum Bistum erhob, sah es auf der sechzig Meter hohen Erhebung gewiß noch anders aus. Es mag Jahrhunderte gedauert haben, bis dieser Kirchenfestungsklotz in den Himmel stieß und der Rock of Cashel den Anblick bot, dessen Erhabenheit sich trotz des stellenweisen Verfalls bis in unsere Tage erhalten hat. Unzählige Quader, einer auf den anderen getürmt - das nördliche und südliche Querschiff, die langgestreckte, dachlose Kathedrale; daneben die romanische Kirche, Cormac’s Chapel mit ihrem Steildach und dem Tonnengewölbe. Schwerer, lastender noch, an der Westseite - Bishop’s castle, das massige Rechteck des
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