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Mein grosser Bruder

Mein grosser Bruder

Titel: Mein grosser Bruder
Autoren: Berte Bratt
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Beine hat!“ Ich zog das Nachthemd hoch und blickte auf meine Beine. Sie waren dünn wie Streichhölzer.
    „Ja, aber, ja, aber – bin ich überall so dünn?“
    „Genau das, und deshalb hast du auch keinen Mucks zu riskieren. Das einzige, was du zu tun hast, ist essen.“
    „Es ist aber so langweilig, allein zu essen.“
    „Versprichst du zu essen, wenn wir es mit dir zusammen tun?“
    „Ja“, sagte ich begeistert und hatte meine „Pfeifenstiele“ schon wieder auf dem Bettvorleger.
    „Halte dich ruhig, du Hampelmann. Mohammed darf nicht zum Berg, es ist der Berg, der zu Mohammed kommt. Elsa, hilf mir bitte, den Berg zu bewegen.“
    Einen Augenblick darauf brachte sie den kleinen Tisch aus dem Eßzimmer angeschleppt. Elsa ging geschäftig hin und her und deckte den Tisch. Ich habe schon gesagt, daß alles hübsch wird, was Elsa in die Hand nimmt. Auch das Essen war gut.
    „Johannes“, sagte ich, „kriegst du jeden Tag so was?“
    „Ja“, sagte Johannes, „von mir kann man wahrhaftig nicht sagen, daß ich Pfeifenstiele habe.“
    „Und ich bekomme bloß scheußliche Hafersuppe.“
    „Mit Schlagsahne darin“, ergänzte Elsa.
    „Und Saft…“
    „… von den besten Orangen, mit der neuen Zitruspresse ausgepreßt, die Johannes spendiert hat, du Range, du undankbares Geschöpf.“
    Zwei Tage darauf durfte ich dann richtig aufstehen. Es war herrlich, wieder auf den Beinen zu sein. Dann ging es rasch aufwärts. An einem sonnenblanken Tag, Anfang Mai, spazierte ich zum erstenmal auf der Straße und im Park.
    Daheim war es jetzt so gemütlich. Johannes war nicht nur sanft und freundlich, er war geradezu redselig. Elsas Neckereien fing er auf und gab sie oft schlagfertig zurück.
    Es war eines Abends nach dem Abendbrot. Wir tranken immer eine Tasse Tee und aßen Butterbrot dazu, wenn Elsa gegen halb zehn vom Theater kam. Wir saßen im molligen Zimmer bei gedämpftem Licht und leiser Radiomusik. Elsa und Johannes schwiegen. Lange…
    Endlich sah Johannes auf und lächelte – warf einen kurzen Blick auf Elsa und wandte sich dann an mich.
    „Du, Vivi, du weißt, daß ich das Theatermilieu hasse.“
    „Immer noch?“ fragte ich trocken.
    „Und ich war wohl recht eklig, als du mit Theaterleuten verkehrtest?“
    „Eklig? Du warst unausstehlich.“
    „Und als ich heimkam, mitten in deine Gesellschaft…“
    „… wäre ein Skandal daraus geworden, wenn Elsa den Stier nicht bei den Hörnern gepackt hätte.“
    „An den Rockaufschlägen, meinst du. Nun also, weil ich alles hasse und verabscheue, was mit dem Theater zu tun hat, und weil ein Mann immer konsequent und logisch ist und nach seinen Grundsätzen handelt…“
    „Johannes!“ schrie ich und fuhr aus dem Lehnstuhl auf. „Johannes! Du hast dich mit Elsa verlobt!“
    „Ach, du lieber Gott“, stöhnte ich. „Wo ist der Sekt?“
    „Im Kühlschrank“, sagte Elsa, „ich hole ihn.“ Ich legte die Arme um Johannes’ Hals. „Lieber, lieber Johannes – ich bin so froh, so schrecklich froh.“
    Johannes und Elsa strahlten vor Glück. Elsa zog wieder in ihre Bude bei Tante Charlotte, aber beinahe jeden Tag kam sie zu uns.
    Nicht eine Sekunde ließen die beiden mich fühlen, daß ich überflüssig war oder fünftes Rad am Wagen. Aber trotzdem – trotzdem! Was sollte aus mir werden?
    Elsa und Johannes wollten im Juni heiraten. Sie sprachen so einfach und selbstverständlich davon, und daß ich bei ihnen wohnen würde, verstand sich anscheinend bei den beiden von selbst.
    Es war also bestimmt nicht ihre Schuld, wenn ich mich entwurzelt und überflüssig fühlte.
    Ich war zwanzig Jahre. Mein Vater war tot. Meine Mutter war mit ihrem Mann und ihrem Glück beschäftigt. Ja, daran konnte ich jedenfalls mit Freude denken, daß ich ihre Ehe vor dem Zusammenbruch gerettet hatte. Bei den letzten Besuchen konnten wir sehen, wie glücklich sie und Alfred waren.
    Johannes, der eigentlich Mutter und Vater und Bruder zugleich für mich gewesen war, der hatte – Elsa.
    Und der, der nun alles für mich hätte sein können, er war verschwunden. Ob Torsten wohl einmal wieder auftauchen würde?
    Über diese Geschichte im Langerudwald hatten Johannes und ich nur einmal gesprochen. Jetzt, da sie etwas zurücklag, konnte ich nüchterner darüber nachdenken, und es wurde mir klar, daß Helge Bentsen vielleicht kein so gemeiner Schurke war, wie ich damals gedacht hatte. Er hatte bestimmt keine Verführungsszene geplant. Wenn er das getan hätte, hätte er sich eine
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