Mehr als nur ein Zeuge
Meer sehen kann. Nicht schlecht. Mir kommt es ein bisschen wie Urlaub vor.
»Ist das wirklich eine so gute Wahl?«, fragt Mum skeptisch. »In diese Küstenstädtchen kommen doch viele Touristen.«
»Hier sind Sie weit weg von London«, sagt Doug. »Außer Gefahr. Tagesausflügler kommen selten her, es ist kaum was los hier.« Doug weiß echt, wie man jemandem die neue Heimat schmackhaft macht.
Drei Tage bevor das neue Schuljahr beginnt, ziehen wir los, eine Schuluniform kaufen. Als ich mich im Spiegel der Umkleidekabine betrachte, in dunkelgrüner Jacke, schwarzer Hose, grauem Pulli, weißem Hemd, grüner Krawatte, den blöden roten Haaren – die Haare gefallen mir absolut nicht – und der Brille mit dem Metallrahmen, versuche ich mir vorzustellen, was für ein Typ Jake sein soll. Er sieht nicht so cool aus wie Joe, das ist schon mal klar, aber er ist trotzdem selbstbewusster als es Ty je war. Wenn ich ehrlich bin, sieht er ein bisschen unglücklich aus, wie er sich so hinter seiner Brille versteckt.
Wir gehen wieder in die Wohnung, wo wir alles auspacken und Mum Maureen überredet, die Fernuniversität anzurufen und nachzufragen, ob ihre Scheine auf ihren neuen Namen umgeschrieben werden können, damit sie weiterstudieren kann. »Ich brauche nur noch zwei Kurse, dann habe ich meinen Abschluss in Jura«, sagt sie. Da klopft es an der Tür.
|344| »Wer kann das denn sein?«, wundert sich Mum. »Doug wollte erst Dienstag wiederkommen und sich nach deinem ersten Schultag erkundigen.«
Wir sehen einander erschrocken an. Dann sagt Mum: »Geh du hoch aufs Dach, ich mache auf.«
So liege ich jetzt auf dem Dach, sehe die Möwen über mir kreisen und bilde mir ein, es seien Geier, die mir die Augen auspicken wollen, und dann kommen DI Morris und DC Bettany zu mir hoch. »Bleib liegen«, sagt DI Morris, als er sich neben mich setzt. DC Bettany zieht sein Notizbuch heraus. So langsam geht mir dieses Notizbuch schwer auf die Nerven.
Ich kann also nirgendwohin wegrennen, als DI Morris anfängt: »Ich habe mich mit jemandem unterhalten, den du gut kennst, und möchte dir ein paar Fragen stellen.«
»Ach ja?«, sage ich lässig und beobachte, wie sich drei Möwen heftig um ein Stück Fisch streiten. Hat er Claire einen Besuch abgestattet? Er meint doch hoffentlich nicht Ashley.
»Ich würde gern mehr über das erfahren, was geschehen ist,
bevor
ihr in den Park gegangen seid«, sagt er.
Jetzt weiß ich, auf wen er anspielt. Nicht auf Ashley. Auch nicht auf Claire. Er hat sich mit meinem Freund Arron Mackenzie unterhalten.
|345| Kapitel 29
Rio
Arron hat es versprochen. Er hat es mir versprochen. »Ich verrate keinem, dass du es warst«, hat er gesagt. Aber sechs Monate Jugendstrafanstalt können einen natürlich verändern. Ich würde es ihm nicht mal vorwerfen, wenn er ihnen gesagt hätte, was ich getan habe. Aber das heißt nicht, dass ich sofort alle Karten auf den Tisch lege.
Ich setze mich auf. »Ich dachte, Sie dürfen ohne einen Anwalt gar nicht mit mir reden. Jedenfalls nicht ohne meine Mutter.«
»Da kommt sie schon«, sagt DI Morris.
Mum klettert ebenfalls aufs Dach. Sie setzt sich und sagt: »Wollen Sie nicht lieber runterkommen? Da hätten wir’s etwas bequemer.«
»Es dauert bestimmt nicht lange«, erwidert DI Morris.
Oha. Das klingt nicht gerade nach … Na ja, mal abwarten, was er für Fragen hat. Nur nichts überstürzen.
Er fragt mich nach der Zeitungstour. Ob ich jemals gesehen hätte, dass jemand die Taschen benutzt hat, um etwas anderes als Zeitungen und Zeitschriften zu transportieren. Ob gewisse kleine Päckchen eine Rolle gespielt hätten? Ich sage Nein, ich war immer der Erste, der seine |346| Tasche abgeholt hat, außerdem hatte ich die längste Tour und alle waren immer vor mir fertig. Das stimmt. Mal sehen, ob ich ihm noch mehr wahre Dinge erzählen kann.
Dann sagt er: »Ich möchte dich zu einem Treffen befragen, zwischen dir und Arron und den Jugendlichen, die du als Arrons Begleiter damals im Park identifiziert hast. Julian White – bekannt als Jukes – und Mikey Miller. Ist das richtig?«
»Das war kein Treffen, die beiden waren einfach da, als wir auf dem Heimweg von der Schule aus der U-Bahn kamen … Ich hab noch gedacht, vielleicht waren sie beim Bowling, denn die Bowlingbahn ist gleich neben der U-Bahn -Station.« Inzwischen ist mir natürlich klar, dass Arron das Ganze arrangiert haben musste.
»Ich hab auch nicht gewusst, dass sie in einer Gang waren.
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