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Meeresrauschen

Meeresrauschen

Titel: Meeresrauschen
Autoren: Patricia Schröder
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mir
die ganze Zeit über gefehlt hatte.
    »Allerdings scheint dir sein Fleisch nicht besonders gut bekommen
zu sein«, riss Tante Grace mich aus meinen Gedanken.
    »Ähm … was?«
    Hastig verteilte ich die Teller und reichte Gordy Messer und
Gabel, die er stirnrunzelnd betrachtete.
    »Das Stück Fleisch, das du Cyril aus der Schulter gebissen
hast«, half meine Großtante mir auf die Sprünge. »Es scheint verdorben gewesen zu sein. Sonst wärst du anschließend wohl
kaum so furchtbar krank geworden.«
    »Ich bin wegen Gordian krank geworden«, erwiderte ich.
    »Ach, du liebe Güte!« Tante Grace hob in einer theatralischen
Geste ihre Hände. »Jetzt komm mir bloß nicht damit,
das mit euch soll so eine Ich-kann-ohne-den-anderen-nicht-sein-Geschichte werden!«
    Ich spürte Gordys Blick auf mir und das brachte mein Herz
zum Rasen.
    »Wäre das so schlimm?«, krächzte ich.
    »Allerdings«, entgegnete meine Großtante, platzierte die
Tarteform auf dem Holzbrett, das ich in die Tischmitte gelegt
hatte, und teilte die Quiche mit den für sie so typischen energischen
Handgriffen in sechs Dreiecke. »Es ist nie gut, wenn
man sich von einem anderen Menschen abhängig macht. Zuerst
muss man seinen eigenen Platz im Leben finden.«
    »Wovon ich deiner Ansicht nach offenbar noch meilenweit
entfernt bin«, ergänzte ich.
    »Du weißt ganz genau, wie ich das meine, Elodie«, gab Tante
Grace zurück. Sie wartete, bis ich den Salat verteilt hatte, dann
ließ sie sich auf ihren Stuhl sinken. »So, und jetzt wünsche ich
uns einen gesegneten Appetit.«
    Leise seufzend nahm ich mein Besteck auf.
    Tante Grace war eine verdammt harte Nuss, die sicher nicht
so leicht zu knacken war und die mir wohl noch so manches
Hindernis in den Weg legen würde. Nicht aus böser Absicht
natürlich. Oh nein. Auf ihre Art meinte sie es ganz bestimmt
genauso gut mit mir wie Ruby oder Sina und in gewisser Weise
war ich sogar dankbar dafür.
    Ich hatte immer Menschen an meiner Seite gebraucht, die mir schwierige Entscheidungen abnahmen und mir eine Richtung
vorgaben. Pa war einer von ihnen gewesen. Der Wichtigste.
Sein Tod hatte mich auf mich selbst und damit auf
unbekanntes Terrain zurückgeworfen. Inzwischen begann in
mir aber die Gewissheit heranzureifen, dass er mich niemals
verlassen hätte, wenn er nicht davon überzeugt gewesen wäre,
dass ich in der Lage war, mein Leben auch ohne ihn und seine
Ratschläge zu meistern. Und das gab mir eine Stärke, die ich
zwar nicht wirklich greifen, aber tief in meinem Herzen spüren
konnte.
    Tante Grace hatte absolut recht: Man – oder in diesem Falle
ich – durfte mich nicht zu sehr von anderen Menschen abhängig
machen. Weder von ihr oder Gordy noch von Sina oder
meiner Mutter. Und bei jedem, der mir begegnete, musste ich
immer wieder aufs Neue abwägen, welche Rolle er in meinem
Leben spielen könnte und welchen Raum er dabei einnehmen
würde. Was Cyril anging, hatte ich mich böse geirrt, aber
Gordy würde mich nicht enttäuschen. Dessen war ich mir sicher
… dessen wollte ich mir einfach sicher sein.
    »Seit wann kennt ihr euch eigentlich schon?«, fragte Tante
Grace, während sie sorgfältig ein Salatblatt mit Messer und
Gabel faltete und anschließend aufspießte.
    Gordy sah ihr fasziniert dabei zu. Er hielt sein Besteck eher
ungelenk in den Händen und hatte seine Quiche noch nicht
angerührt. Wenn er es sich mit meiner Großtante nicht bis an
sein Lebensende verderben wollte, würde er aber wohl oder
übel etwas davon probieren müssen. Und so trennte ich möglichst
elegant die Spitze von dem Stück auf meinem Teller ab,
in der Hoffnung, dass er sich unsere Art zu essen von mir abgucken
würde.
    »Ähm … seit ungefähr drei Wochen«, sagte ich und schob
mir das Quichestück in den Mund.
    »Hmmm«, machte Tante Grace. »Und seit wann gehen Sie
hier bereits ein und aus?«
Ohne dass ich etwas davon mitbekommen
habe,
schwang unüberhörbar in ihrer Frage mit.
    »Ich bin heute zum ersten Mal in Ihrem Haus, Mrs Shindles
«, erwiderte Gordy mit einer geradezu atemberaubenden
Selbstverständlichkeit.
    Meine Großtante sah ihn nicht weniger verwundert an als
ich. »Verzeihen Sie bitte meine Indiskretion«, sagte sie. »Aber
wie sind Ihre Sachen dann in Elodies Zimmer gelangt?«
    Gordy schenkte zuerst ihr ein Lächeln und danach mir. »Sie
hat sie freundlicherweise für mich aufbewahrt.«
    »Entschuldigung, aber das ist mir zu hoch«, brummte Tante
Grace.
    Ich spürte, dass es nun an mir war, diese
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