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Meeresblau

Meeresblau

Titel: Meeresblau
Autoren: Britta Strauß
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sein. Darin findest du alles, was du wissen musst. Die Route, die Stationen, deine Aufgaben und das komplette Programm. Jeden Samstagabend halten wir traditionell eine Vorlesung auf dem Schiff ab, also falls du dich bereit erklärst, eine zu halten, würden mit Sicherheit Begeisterungsstürme losbrechen. Während der Reise solltet ihr euch auf unterschiedliche Temperaturen einstellen. Wir bewegen uns zwar theoretisch in tropischen Gewässern, aber dank des Humboldtstroms herrscht in unserem Forschungsgebiet ein gemäßigtes Klima. Das heißt, ein paar Tage verbringen wir in tropischer Hitze, während die anderen deutlich kühler ausfallen.“
    „Nett, dass du mich darauf hinweist.“ Er lächelte und ging zur Tür. „Also dann, bis nächste Woche.“
    Viel zu schnell verschwand er, und mit ihm löste sich die magisch-entrückte Stimmung in Luft auf. Maya fühlte sich, als sei sie aus einem Traum erwacht. Und diesmal war diese oft benutzte Floskel nicht einmal übertrieben.
    „Der helle Wahnsinn. Scully und Mulder, das ist ein Fall für euch. Die Wahrheit ist irgendwo da draußen. Und ich werde sie finden. Verlasst euch drauf.“
    Kläglich versuchte sie, den Rest ihres Pensums abzuarbeiten, doch jeder Versuch, sich zu konzentrieren, war zur Erfolglosigkeit verdammt. Ein böses Übel. Sie befand sich mit dem Expeditionsplan bereits in Verzug. Es musste dringend noch koordiniert werden, wann wo was zum Einsatz kommen würde. Und am besten hätte alles vorgestern fertig sein sollen.
    „Großer Geist.“ Sie raufte sich die Haare. „Jetzt reiß dich mal am Riemen.“
    Sie atmete tief durch. Langsam wich ihre Faszination und überließ peinlich berührtem Schrecken das Feld. Sie hatte diesen Mann unsäglich zugeplappert und ihn, wenn auch unabsichtlich, für dumm verkauft. Ohne Frage hielt er sie nun für eine Idiotin. Seit jeher hatte Maya es vorgezogen, allein zu arbeiten, selbst wenn das bedeutete, dass sie schuften musste wie eine Besessene und wie ein Zombie herumlief, weil wochenlang nur drei Stunden Schlaf pro Nacht möglich waren. Jeder wusste, dass sie eine Eigenbrötlerin war. Irgendwer hatte sie mal als misanthropische Amazone mit Indianerblut in den Adern und Feuer unterm Hintern bezeichnet. Im gepflegten Umgang mit hohen Tieren der Wissenschaft war sie ungeübt und hatte bisher auch keinerlei Drang verspürt, an dieser Tatsache etwas zu ändern. Versnobte Anzugträger befanden sich jenseits des Personenkreises, dem sie Sympathie zollte, doch Christopher brachte sie aus dem Konzept. Sie hatte Erwartungen gehegt, und jede einzelne war revidiert worden. Er war anders. Von einem versnobten Anzugträger Lichtjahre entfernt.
    Sie trat an das Fenster, lehnte die Stirn gegen das Glas und beobachtete, wie der letzte Rest Dämmerung im Westen verlosch. Bleigrau war der Abend, erfüllt von der schwermütigen Winterstimmung, die sie an dieser Insel so liebte. Kutter und Boote in allen Größen bevölkerten den Hafen, weiß gekalkte Häuser mit schiefen Holzzäunen duckten sich unter dem schneeschwangeren Himmel. Die Schreie der Möwen erinnerten Maya daran, wie sehr sie sich nach dem offenen Meer sehnte und wie viel Zeit vergangen war, seit sie das letzte Mal dort draußen war.
    Zurück an ihrem Schreibtisch zog sie eine Schublade auf und nahm das darin liegende Foto heraus. Britisch Kolumbien im Jahr neunzehnhundertzweiundneunzig. Zwei Wochen Blockhaus inmitten der Wildnis, gemeinsam mit ihrem Großvater. Glücklich lagen sie sich vor dem Hintergrund eines nebelverhangenen Sees in den Armen, und in Opa White Elks langem, ergrautem Haar hing eine gestreifte Feder.
    „Ich vermisse dich.“ Mit zwei Fingern zupfte sie die Feder ab, die sie damals am Foto befestigt hatte, und steckte sie in ihren Zopf. „Das Schicksal nimmt seinen Lauf, hättest du wohl gesagt. Und ich glaube, so ist es.“

    Der Ruf des Meeres nahm zu, hallte in jeder Faser seines Körpers wider und ließ ihm keine Ruhe. Würde der Tag kommen, an dem der Ruf zu stark wurde, um ihm zu widerstehen? Etwas in ihm veränderte sich. Er wusste nicht, was es war. Er wusste nur, dass es stärker wurde. Greifbarer und realistischer, ein höhnischer Beweis, wie kläglich der wissenschaftliche Verstand scheitern konnte. Die Visionen waren nur ein Teil eines weitaus größeren Ganzen, das er nicht mehr länger verharmlosen konnte.
    Christopher ging einen weiteren Schritt auf die Brandung zu. Rumpelnd schlugen die Rümpfe der beiden Fischkutter aneinander, die
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